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Imperium

Imperium

Titel: Imperium
Autoren: Christian Kracht
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seinen Armen standen senkrecht ab, ein Rinnsaal warmen Schweißes perlte ihm hinterm Ohr ins Gewand. Govindarajan hatte sich entfernt. Das Klopfen der metallenen Spitze seines Stabes wurde leiser und war schließlich gar nicht mehr zu vernehmen, so sehr sich Engelhardt auch mühte, es noch zu hören. Abermals läutete der grausige Gong. Und nun erlosch auch noch die Kerze. Schaudernd tat er einen tastenden Schritt nach rechts und drehte sich um die eigene Achse, so daß er mit dem Antlitz dort zu stehen kam, wo er den Eingang vermutete - doch man war beim Betreten des Tempels um mehrere Ecken gegangen, ohne die wohl von hier aus das Licht des Tages zu sehen gewesen wäre. Er flüsterte den Namen seines Gefährten. Dann sprach er ihn lauter aus, schließlich rief er Go-vin-dara-jan! in das tintige Dunkel hinein.
    Es kam keine Antwort. Sein Freund war verschwunden. Er hatte ihn hier in die Finsternis gelockt und sich dann aus dem Staub gemacht. Aber warum? Was, wenn …? Und was hatte er ihm in Gottes Namen alles erzählt? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber mit Sicherheit hatte er ihm von seinem Gepäck am Hafen von Colombo berichtet, sicher ihm auch anvertraut, er habe einen größeren Geldbetrag in Pfandbriefen dabei, diesen, er schlug sich dabei in der Dunkelheit mit der flachen Hand auf die Stirn, habe er natürlich in seinem Handbeutel im gemeinsamen Zimmer im Queen’s Hotel liegenlassen. Engelhardt löste wütend sein Haargummi und warf es zu Boden. Einem völlig Fremden, einer flüchtigen Zugbekanntschaft hatte er alles offenbart, im Glauben, der Fruktivorismus schaffe ein unsichtbares Band des Zusammenhaltes zwischen den Menschen. Aber vielleicht hatte der Tamile einfach alles erlogen? Womöglich war er überhaupt kein Vegetarier gewesen, sondern hatte lediglich das gesagt, was er, Engelhardt, habe hören wollen.
    Später im Hotel - Engelhardt hatte sich, langsam aus der absurden Gefangenschaft des dunklen Tempels heraustastend, der ihm, kaum besah er ihn erneut von außen, wiederum freundlich-harmlos und einladend erschienen war, befreien können - untersuchte er seinen Reisebeutel, und tatsächlich fehlte der Geldbetrag, den er in eine Seitentasche desselben eingenäht hatte. Sonst war, soweit er sehen konnte, alles noch vorhanden. Seinen Beutel unter den Arm klemmend, schritt er langsam und beinahe auf Zehenspitzen die Treppe zur Empfangshalle hinab, beschied im Flüsterton dem Hotelangestellten, die Rechnung für das Zimmer, da er sie nicht begleichen könne, bitte doch an den Konsul des Deutschen Reiches in Colombo zu schicken. Der Hotelier lächelte schief und antwortete, das sei nun wirklich nicht nötig, es sei keine Rechnung entstanden, da nicht übernachtet wurde, das Früchtefrühstück sei ein Geschenk des Hauses, und überdies rate er, die örtliche Polizei aufzusuchen und den Tamilen anzuzeigen, den er, nebenbei bemerkt, vor zehn, zwanzig Minuten beim hastigen Verlassen des Hotels noch gefragt habe, wo denn sein deutscher Reisegefährte geblieben sei, worauf er keine Antwort erhalten, sondern sich des Eindrucks nicht habe erwehren können, der Tamile habe eine Arglist begangen, so schuldig habe er ausgesehen.
    Der Hotelier, der im übrigen ein famoser Kerl war, begleitete den armen Engelhardt zum Bahnhof, schenkte ihm eine Fahrkarte dritter Klasse hinab in die Hauptstadt und bugsierte dann den spindeligen jungen Mann, dem ein Besuch bei der lokalen Konstablerei als das Unangenehmste erschien, was er sich überhaupt hätte vorstellen können, unter nicht allzu großen Protesten in den letzten Waggon des langsam anfahrenden Zuges. Und dort, im Abteil sitzend (der Nachmittag senkte sich nun, Preußischblau eingefärbt und süßlich duftend, gegen den frühen Abend hin), die Schulter an einen Mitreisenden gelehnt, den Rücken an die Holzbank gedrückt, die Augen geschlossen, dafür die wirren langen Haare offen, die Reisetasche vorn an seinen Bauch gepreßt, beginnt plötzlich der Kinematograph zu rattern: Ein Zahnrad greift nicht mehr ins andere, die dort vorne auf dem weißen Leintuch projizierten, bewegten Bilder beschleunigen sich wirr, ja sie laufen für einen kurzen Augenblick nicht mehr vorwärts, wie vom Schöpfer ad aeternitatem vorgesehen, sondern holpern, zucken, jagen rückwärts; Govindarajan und Engelhardt treten verharrenden Fußes in die Luft - fidel anzusehen - und hasten rückwärts Tempelstufen herab, überqueren ebenfalls rückwärts gehend die Straße, immer stärker
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