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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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Nacht. Der Glanz der Fremde spiegelte sich im Nass der Straßen. An roten Ampeln neugierige Blicke, manchmal ein mitleidiges Lächeln. Das Gefühl der Minderwertigkeit konnte in jener Nacht nicht größer sein. Auf einer Kreuzung seufzte der Wagen und blieb stehen. Die Verzweiflung unbeschreiblich. Die Erschöpfung. Die Ratlosigkeit. Vier Ostdeutsche, ortsunkundig, mit einem russischen Pannenwagen im Regen noch immer nicht am Ziel ihrer Reise. Der Nachtverkehr raste vorbei, Gehupe, der Vater stieg aus, lief um den Wagen, beugte sich und sah, es ergoss sich dampfendes Wasser auf den Asphalt. Kurzes Umblicken. An der Ecke ein Taxistand. Frau und Kinder wie gelähmt. Der Taxifahrer und der Vater schoben den Wagen an den Straßenrand, die Mutter am Steuer. Die Schwester mit dem Stoffhund im Arm und ich mit meiner Puppe standen auf dem Bürgersteig, Hand in Hand, betäubt und ängstlich zugleich.
    Der Taxifahrer muss sich gefagt haben, woher wir kämen. Ob er Antwort erhalten hat, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall erfuhr er, wohin wir wollten. Nach Wewelsfleth, nördlich von Hamburg, in ein altes Haus. Er sollte uns fahren. Das Gepäck sollte lieber nicht bei dem geschädigten Auto bleiben, nur das im Kofferraum, nicht das auf dem Dachgepäckträger. 2 Koffer mit persönlicher Garderobe, 1 Reisetasche mit Nachtwäsche, 1 Schmuckkassette mit persönlichen Schmucksachen, 1 Schulmappe mit Spielzeug, 1 Fön, 2 Schlafdecken, 1 Beutel wechselten die Fahrzeuge. Eineinhalb Stunden nach Mitternacht ging es aus der Stadt aufs Land. Auf dieser Fahrt schliefen die Schwester und ich endlich ein.
    Als das Taxi hielt, hatten die Leute, die im Haus auf uns gewartet hatten, gerade die Tür abgeschlossen. Nachts halb drei glaubten sie, man hätte uns nicht durchgelassen. Dass es »nur« das Auto war, daran hatte keiner gedacht.
    Nun waren wir also da. Die Tür wurde wieder aufgeschlossen.
    Die Schwester und ich wurden aus dem Taxi in ein Zimmer neben der Küche getragen. Die Eltern saßen mit den Leuten um den Tisch in der Küche bis zum Morgengrauen, redeten, tranken und rauchten. Beide aufgedreht und erschöpft zugleich.
    Ich wachte am nächsten Morgen auf und wusste nicht, wo ich war. Ein Haus wie dieses hatte ich noch nie gesehen, ein Vorraum, der eine alte Apotheke war, viele Zimmer, wie ein Puppenhaus, mit Alkoven, in denen wir uns verstecken konnten.
    Noch im Sommer hatte ein Fachwerkhaus fernab von Berlin, irgendwo in Mecklenburg, wo man sich unbeobachtet dachte, sicherer, den Eltern und Sarah Kirsch eine Bleibe versprochen. Ein Haus mit Grundstück und kleinem Wäldchen, einem Bienenstock und funkelnden Seen rundherum, eingerichtet mit alten Bauernmöbeln, die Küche voller Zwiebelmuster. Die Mutter hatte sich schon auf der verfallenen Bank vor dem Haus sitzen sehen, aus einer Aluminiumschüssel Erbsen auspalen, sie sagte auspalen, und Hühner um sie herum. Der Vater sah die Pilze von der Decke wachsen. Sarah Kirsch sah alles morsch und brüchig und meinte nicht nur den Fußboden und die Wände. Der Traum vom unbehelligten Dasein war ausgeträumt. Die Nadel auf dem Kompass hatte längst auf W gezeigt.

    Im Norden war erst einmal Sonntag. Noch vor dem Frühstück liefen die Schwester und ich aus dem Haus auf die Dorfstraße: Unterschiede suchen. Dass wir uns unterschieden, wussten wir noch nicht, auch wenn jemand gesagt hatte, »Leute aus der DDR riechen anders«. Für uns waren die Unterschiede der Kaugummiautomat an der Ecke, die metalleneren Autos, die vielen Straßenlaternen, die Farben der Häuser. Es gab eine Menge zu sehen, was anders war. Bekannte Gesichter, Günter Grass, Nicolas Born, verliehen Vertrauen in unvertrauter Umgebung. Es war wie Urlaub. Große Ferien mitten im Winter. Ausnahmezustand. Fort war die Bedrückung, die Beschwertheit. Dafür Tatendrang. Bis zum ersten Einkauf. Die Mutter kam mit leeren Taschen zurück. Sagte: »Komm mit, du musst mir helfen. Ich weiß nicht, was ich nehmen soll.« Das Warten vor dem Wurststand. Eine Frau vor uns, die fragte: »Was haben Sie heute im Angebot?« Für uns eine rhetorische Frage bei dem, was wir sahen. Für die Frau eine konkrete. Plötzlich wussten wir, dass der Unterschied nicht nur im Geruch lag, dass man sich nicht auskannte, dass alles anders war. Das Viele, das Farbige weckte den Zustand der Verwirrung. Die Warenauslage wurde zum Abbild der Gegensätze, und es beschlich uns das Gefühl, dass es nicht nur die Aneignung des täglich Praktischen sein würde, was
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