Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
uns ankommen ließe. Es war nicht so: gleiche Sprache, gleiches Land. Der Satz: »Leute aus der DDR riechen anders«, zuerst als Beleidigung aufgefasst, brauchte nur eine andere Interpretation, dann stimmte er. Der Spürsinn war es. Die andere Sensibilität, die Möglichkeit des Vergleichs, das genaue Hinschauen und dabei das ständige Hinterfragen.
Der Einkauf war eine Irritation. Die Mutter telefonierte mit dem Onkel. Das MfS hörte mit. Auch sein Apparat wurde überwacht. Die Protokolle füllen Bände.
Die Mutter: Heute habe ich versucht, in einem Lebensmitteladen einzukaufen. Für ein bisschen Aufschnitt zweiundzwanzig Mark. Das ist ja irre.
Andere Ereignisse überwogen: Die Fahrt nach Hamburg, wo die Eltern die Ausbürgerungsurkunde abgaben. Wo sie die Ausweise erhielten, die uns zu Bundesbürgern machten. Es muss ein überwältigender Moment gewesen sein. Endlich wieder vollwertig, in Sicherheit.
Sicherheit, davon konnte keine Rede sein. Damit meine ich nicht, dass ich mich in Gefahr wähnte. Ich meine den sicheren Boden unter den Füßen. Gut, wir hatten nicht wie Tausende andere zuvor in einem Notaufnahmelager auf den Neubeginn im Westen warten müssen, auf Genehmigungen, auf Arbeit, auf Wohnung, auf Geld. Für uns gab es keine Enge in vielbelegten Zimmern mit Doppelstockbetten. Wir waren gut aufgehoben, es ging weiter, das wussten wir. Die auf der anderen Seite wussten es auch, vom Onkel:
»Schädlich wohnt seit seiner Übersiedlung in die BRD am 10.12.77 in Wewelsfleth bei Hamburg in einem Haus, welches er durch die Vermittlung des Westberliner Schriftstellers Günter Grass bewohnen darf. In der Woche vor Weihnachten wird Schädlich nach Hamburg in eine bereits möblierte Wohnung ziehen, die er von der Stadt Hamburg erhielt. Diese Wohnung befindet sich in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes am Berliner Tor. Sylvester wird Schädlich mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR Günter Gaus feiern.«
Aber es gab niemanden in der Nähe, der unsere Empfindungen teilte. Die, die man kannte von Dort, hatten woanders mit sich zu tun. Und wir selber traten unbekümmert auf. In Hamburg fiel kaum auf, dass die Bundesrepublik ein fremdes Land für uns war, wir andere Deutsche waren und Deutsch anders verstanden, dieses Schlingern, das Ungefestigtsein, das Nichtwissen, wohin. Jedenfalls ging es mir so. Lange dieses mangelnde Selbstvertrauen, weil man das Gefühl hatte, nicht so weltgewandt zu sein wie die anderen im Westen, weil man so vieles nicht kannte, weil es in der DDR verboten war. Weil man befürchtete, immer »der blöde Ossi« zu bleiben. Diese gottverdammte Lähmung, die einen befiel, dieses Starrsein vor Schreck und die aufgesetzte Munterkeit, mit der wir es uns selber schwermachten.
Ich erinnere mich an einen Besuch mit den Eltern und Nicolas Born bei einem mit ihm befreundeten Ärzteehepaar. Ein Haus im Grünen, wie in Köpenick, nur sehr viel komfortabler. Bei Kaffee und Kuchen im Garten wollten der Mann und die Frau wissen, wie es uns ginge, aber mehr noch, wie es jetzt dort wäre, woher wir gekommen waren. Vor zwanzig Jahren waren sie aus Ost-Berlin geflohen und hierher gezogen. Sie fragten und fragten. Die Mutter war wortkarg. Später sagte sie: »Zwanzig Jahre schon hier, und immer noch nicht angekommen, das darf uns nicht passieren.«
Der Wunsch, in der Bundesrepublik anzukommen, war ein Wettlauf mit der Zeit. Für die drüben war sie, als wir gegangen waren, wie stehengeblieben. »Hallo, Ihr treulosen Tomaten! So wie der umseitige Herr sah ich ungefähr aus, als ich heute nach einem Blick in meinen Kalender merkte, daß Ihr mich schon drei Wochen lang nicht angerufen habt. Dein letzter Brief, Paps, ist jetzt zwei Monate alt! Habt Ihr Eure Hinterbliebenen ganz vergessen? In der Hoffnung mal wieder ein Lebenszeichen zu empfangen: Jani«
Diese Postkarte vom Bruder fand ich in den Akten.
Durch Telefonate, in denen wir versuchten, denen auf der anderen Seite den Teil des Landes begreiflich zu machen, den wir selber noch nicht begriffen, stellten wir Nähe her. Auch ich.
Ich lese: »[…] ist bekannt, dass die Tochter seines Bruders, Susanne, Anpassungsprobleme hat. Sie ruft immerzu ihre Freundin in der DDR an.«
Meine Telefonate mit Freunden wurden irgendwann seltener. Sie reagierten immer zurückhaltender. Manchmal bekam ich sie gar nicht an den Apparat. So riss der Kontakt langsam ab. Briefe haben mich erst gar nicht erreicht.
»Hallo Meine Liebe Susi!
Ich habe Deinen
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