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Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ihren Angehörigen suchte. Aber sie war die einzige, die im völligen dunkeln tappte, die gar nicht wußte, was sie verloren hatte und trotzdem danach suchte.
    Janine drängte sich in ein Zelt, das viel größer war als alle anderen. Eine merkwürdige Stille herrschte. Es war ihr, als hielten die Menschen den Atem an.
    Und so war es auch. Denn in der Mitte dieses Zeltes wurde in diesen Minuten ein Mensch geboren. Zelte haben keine Wände. Alle in diesem Zelt wurden Zeugen dieser Geburt.
    Janine sah zuerst nur den am Boden knienden Arzt Dr. Haller, sie sah seine Hände, sie hörte seine ruhigen Worte … Erst, als er mit seinem Körper eine Drehung machte, gab er das schweißglänzende Gesicht einer jungen Negerin frei, ihre erschrockenen, großen, hilflosen Augen …
    Janine erlebte das Wunder nicht mehr. Der Schrei des Neugeborenen drang nicht mehr an ihr Ohr. Plötzlich flimmerten schwarze Sterne vor ihren Augen, alles verschwamm, drehte sich, ihre Hand, die nach einem Halt suchte, griff ins Leere …
    Eine junge Frau lag plötzlich – nur ein paar Schritte von dem Neugeborenen entfernt – auf dem Boden. Eine blonde Haarsträhne war ihr in das blasse Gesicht gefallen. Dr. Stephan Haller, der sich über sie beugte, erkannte sie wieder. Noch in der gleichen Nacht ließ er sie mit einem Transportwagen nach Casablanca bringen. Auf dem Begleitzettel stand: »Totaler Erinnerungsverlust. Patientin weiß nicht mal ihren Namen. Ohnmachtsanfälle. Gehirnverletzung möglich. Neurologische Abteilung.«
    »Ist Herr Siebert am Apparat?«
    »Ja.«
    »Hier spricht Inspektor Sasse von der Vermißtenabteilung, ich muß Sie bitten, sofort ins Polizeipräsidium zu kommen.«
    »Es ist etwas passiert, nicht wahr?« Jürgen kannte seine eigene Stimme nicht wieder.
    »Ich kann Ihnen jetzt nichts sagen«, antwortete der Inspektor. »Wann können Sie hier sein, Herr Siebert?«
    »Ich fahre sofort los.«
    »In Ordnung.«
    Jürgen ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Aus, dachte er. Sie ist tot. Sie hat dir nicht verziehen. Und sie wird dir nie mehr verzeihen können. Du kannst nichts mehr reparieren, Jürgen. Deine Gewissensbisse kommen zu spät. Du hast sie in den Tod getrieben.
    Er zog seinen blauen Trenchcoat an und ging zu seiner Garage. Er hatte das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein. Verzweifelt steuerte er seinen Wagen durch das nächtliche Berlin. Er sah Lichter, Menschen, Autos, Schatten – das Leben. Aber er fuhr dem Tod entgegen …
    Seine Lippen bewegten sich. Nein, du hast das nicht getan, Liebling. Glaub mir, wir können noch einmal von vorn anfangen, es wird wieder alles gut werden, genau wie früher. Du hast nicht einfach fünf Jahre weggeworfen, nein.
    Jürgen schürte die Hoffnung. Vielleicht hat der Inspektor eine Spur von ihr gefunden, war das nicht auch möglich? Oder es war ein Unfall, und sie liegt im Krankenhaus. Oder sie sitzt da, und ich kann sie mitnehmen. Oder, oder, oder – gab es nicht ein Dutzend anderer Möglichkeiten?
    Aber als er durch die Gänge des nächtlichen Polizeipräsidiums ging, an den vielen grauen Türen vorbei, wo um diese Stunde niemand mehr arbeitete, da fiel die Hoffnung plötzlich wieder zusammen.
    Inspektor Sasse war ein Mann um die Fünfzig. Er trug eine altmodische Brille mit einem Nickelgestell.
    »Wo ist meine Frau?« fragte Jürgen erregt.
    Der Inspektor schlug statt einer Antwort rotes Packpapier auseinander und hob einen völlig durchnäßten und aufgeweichten Wildledermantel hoch.
    »Kennen Sie den Mantel, Herr Siebert?«
    »Ja«, antwortete er mühsam, »meine Frau hatte so einen.«
    »Mit diesen schwarzen Lederknöpfen?«
    »Ja.«
    Es war still im Zimmer. Eine Uhr tickte. In den Augen hinter der Brille glaubte Jürgen so etwas wie Mitleid zu lesen.
    Jürgen wich diesem Blick nicht aus. »So reden Sie schon«, stieß er hervor.
    Der Inspektor setzte seine Sätze langsam. »Heute nachmittag ist am Gänsewerder im Tegeler See die Leiche einer jungen Frau angetrieben worden. Sie trug diesen Mantel, keinerlei Ausweispapiere, keinen Schmuck, keine weiteren Anhaltspunkte zur Identifizierung …«
    Jürgen sprach kein Wort. Wie aus weiter Ferne hörte er den Inspektor sagen: »Es muß nicht Ihre Frau sein, Herr Siebert. Aber ich kann Ihnen den Weg jetzt nicht ersparen. Sie müssen mich zum Gerichtsmedizinischen Institut begleiten …«
    Jürgen spürte die Kälte, die von innen herauf durch seinen Körper kroch, die von ihm Besitz ergriff, von seinen Beinen, seinen Armen, seinen
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