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Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aufgebrochen von unsichtbaren Kräften, wollte alles in die Tiefe ziehen …
    Zehn Stunden nach der Katastrophe war die Luft noch immer voller Staub. Vier Kilometer vor Marres hatten sie Lazarettzelte aufgestellt, amerikanische Zelte, durch deren olivgrüne Leinwand das Tageslicht wie Schmutz ins Innere fiel.
    Dr. Stephan Haller widerstand der Versuchung, einen Mund voll Staub auszuspucken.
    »Pinzette«, sagte er hinter seiner Maske.
    »Tupfer.«
    »Klammer.«
    Der Kleine hier war der Neunzehnte heute. Milzblutung. Wie klein ein Kinderbauch war, wenn man ihn mit dem Skalpell aufschneiden mußte.
    Hier drin im Operationszelt war es fast so still wie in einem Krankenhaus. Die Verletzten, die schreiend und wimmernd auf ihrer Bahre eintrafen, bekamen gleich eine Spritze und waren still. Und bevor sie aufwachten und weiter jammerten, waren sie wieder draußen.
    »Puls 104, Atmung normal«, meldete der Narkotiseur.
    Schweigend reichte ihm Schwester Maria eine neue Klammer.
    Stephan Haller spürte seine Beine nicht mehr, so lange stand er nun schon auf dem Gummiboden, der in Lysol schwamm. Aber auf seine Hände konnte er sich verlassen, seine Hände arbeiteten unermüdlich und präzise, wie Maschinen.
    Noch eine letzte Naht.
    Er richtete sich auf. Schwester Maria streifte ein Laken über den dünnen kleinen Körper.
    »Er wird's schaffen«, sagte Dr. Haller.
    Schwester Maria sah der Bahre nach, die von zwei Marokkanern hinausgetragen wurde. »Leider fehlt von seinen Eltern jede Spur.«
    Er streifte seine blutverschmierten Handschuhe ab. »Aber seine Mutter war doch bei ihm?«
    »Das war nicht seine Mutter – die Frau, mit der er gefunden wurde«, sagte Schwester Maria, während sie die Pinzetten und Skalpelle in den Instrumentenkocher legte und neue Handschuhe aus der Sterilisiertrommel holte. »Seine Eltern saßen im Speisesaal beim Abendessen, als es losging.«
    Verdammte Schweinerei. Zufällig hatte er die beiden im Vorzelt liegen gesehen, eng umschlungen, aneinandergeklammert wie Ertrinkende – den kleinen Jungen und die blonde Frau, die gar nicht seine Mutter war.
    »Ist sie immer noch bewußtlos?«
    »Immer noch.« Schwester Maria breitete ein steriles Tuch über den Operationstisch. Der Nächste konnte kommen. Sie war tüchtig, die tüchtigste Schwester, die er je hatte. Deshalb hatte er sie auch überredet, mit nach Marokko zu kommen. Für ein Jahr nur. Nur, um ein Krankenhaus einzurichten.
    Bald war das Jahr um. Bald würden sie beide heimfliegen, nach Heidelberg, zurück in den Regen und den Nebel, zurück in die Krehl-Klinik, zurück in die heilige deutsche Ordnung. Wie weit das weg war, wenn man in dieser Hölle hier dran dachte …
    Schwester Maria reichte ihm einen Schluck Kaffee aus der Thermosflasche und nickte ihm ermunternd zu.
    »Der Nächste ist ein Lungenriß.«
    Zwölf Sekunden nur hatte das Erdbeben gedauert. In zwölf Sekunden war das Hotel Mirabelle eingestürzt, der Speisesaal mit den Eltern des kleinen Jungen, das Postamt, das neue Zeitungshochhaus, das Araberviertel, die halbe Stadt. Die Erde hatte getobt. Wie viele Menschen hatte sie verschlungen, zerschmettert, irgendwo zwischen den Steinen ihrer Häuser und den Fetzen ihrer Kleider sterben lassen? Hundert? Tausend? Zehntausend? Es gab keine Zahlen. Es gab nichts als Staub und Schreie, und wer von denen, die schrien, noch eine Chance hatte, der kam in dieses verdammte Zelt hier …
    »Tupfer.«
    »Klammer.«
    Der Lungenriß wurde hinausgetragen. Eine Beinamputation kam. Eine Oberarmfraktur.
    Am späten Nachmittag warf Dr. Haller die Handschuhe weg.
    »Schluß. Ich kann nicht mehr. Was ich jetzt brauche, ist eine Pervitinspritze. Oder eine Stunde Schlaf …«
    »Eine Stunde Schlaf«, sagte Schwester Maria. »Übrigens, die Frau ist jetzt aufgewacht.«
    Nebeneinander traten sie vor das Zelt. Dr. Haller hatte das gleiche Gefühl wie ein Taucher, der endlich frische Luft bekommt. Der Himmel war türkisblau und wie Seide, als wollte er die vergangene Nacht wieder gutmachen.
    »Sie ist so komisch«, fuhr Schwester Maria fort. »Sie sollten sie sich mal ansehen.«
    Janine lag auf ihrem Feldbett und sah den Arzt, der plötzlich an ihrem Fußende stand, mit den Augen eines Kindes an, das sich verlaufen hat.
    »Sie sprechen nicht zufällig auch deutsch?« fragte Dr. Haller als erstes. Er war ein glänzender Chirurg, aber er hatte es versäumt, glänzend Französisch zu lernen.
    »Doch«, sagte Janine, »ich spreche deutsch.«
    »Aber Sie sind
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