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Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Französin, nicht wahr?«
    Janine richtete sich verstört auf.
    »Ich weiß es nicht, Herr Doktor. Ich weiß überhaupt nichts. Nichts von einem Erdbeben, nichts von einem Hotel Mirabelle …«
    Dr. Haller drückte sie sanft auf das Bett zurück. »Nicht aufregen. Das kommt alles wieder. Sie haben verständlicherweise durch die Ereignisse einen Schock erlitten. In ein paar Tagen erinnern Sie sich wieder an alles.«
    Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn. »Doktor, ich kann nicht mal meinen Namen sagen. Ich kann mich nicht an das Gesicht meiner Mutter erinnern, ich muß verrückt sein …«
    »Aber nein«, versuchte der Arzt sie zu trösten.
    »So verstehen Sie doch«, schrie Janine, »in meinem Gedächtnis fehlt nicht bloß ein Stück, nein, ich habe alles vergessen, mein ganzes Leben …!«
    »Nehmen Sie sich zusammen«, wies sie Dr. Haller zurecht. »Sie haben die Katastrophe überlebt – dafür müssen Sie zunächst mal dankbar sein.«
    »Entschuldigen Sie«, murmelte Janine.
    Der Arzt winkte mit einer Handbewegung ab. »Machen Sie sich keine Sorgen, so leicht vergißt man sein Leben nicht.«
    Sie nickte benommen.
    »Wie fühlen Sie sich … ich meine, körperlich? Haben Sie Kopfschmerzen, Schwindel, sonstige Beschwerden, eine Armlähmung oder so was?«
    »Danke, Herr Doktor«, antwortete sie tapfer. »Ich fühle mich ganz gut.«
    »Es wäre das beste, wenn Sie schlafen könnten.«
    »Ich werde es versuchen.«
    Sie sah ihn zusammen mit der Schwester weggehen. Dr. Stephan Haller, der erste Mensch, an den sie sich nun, da er weg war, wieder erinnern konnte. Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, groß, breitschultrig, mit grauen, ruhigen Augen. Sein Gesicht, seine Hände, seine Stimme hatten sich ihr eingeprägt, und sie rief sich geradezu gierig jede Einzelheit ins Gedächtnis zurück. Es war das erste, verzweifelte Festhalten der Wirklichkeit. Alles andere war unwirklich: das olivgrüne Zelt, in dem sie lag, ihre Arme auf der Wolldecke, ihre zerschundenen Fingernägel mit Spuren von rotem Lack. Irgendwann einmal hatte sie den aufgetragen, in jener anderen Zeit, in jener anderen Welt, von der sie nichts mehr wußte.
    Janine schloß die Augen, ließ die Umwelt versinken, versuchte, alte Erinnerungen aus dem Dunkel zu holen. Lieber Gott, flehte sie, zeige mir einen einzigen Menschen aus meiner Vergangenheit. Laß mich meine Mutter sehen, meinen Vater, oder einen Mann, den ich geliebt habe. Oder zeige mir eine Stadt, in der ich gelebt habe, ein Haus, eine Wohnung, bitte, zeig mir ein winziges Stück aus meinem Leben, ein Kleid vielleicht, meinen Kindergarten, eine Puppe …
    Tränen liefen ihr in die Wimpern. Die Vergangenheit war ausgelöscht. Auf tausend Fragen gab ihr Gehirn keine Antwort. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, ich kann atmen, sehen, hören, sprechen, aber ansonsten gibt es mich nicht.
    Ihre Lippen bewegten sich. Zweimal zwei ist vier, vier mal acht ist zweiunddreißig, das wenigstens funktionierte noch. Sie konnte rechnen. Und sie konnte beten. Vater unser, der du bist im Himmel …
    Die Luft im Zelt war trocken. Und es roch nach Blut, nach Blut und Schweiß. Hinter der Zeltwand stöhnte jemand. Ein Kind weinte. Scharfe Rufe dazwischen, Flüche, Gebete – und immer der Motorenlärm, der von draußen hereinkam, zusammen mit dem Staub.
    Das Zelt war überfüllt mit Lebenden und Sterbenden, mit Elend und Tränen. Janine begann ihren Körper abzutasten, ein Kleid, das schmutzig und zerrissen war, zerfetzte Strümpfe, blutige Schrammen an den Beinen, Schuhe mit hohen Absätzen, die – wie lächerlich ihr das auf einmal vorkam – in der Farbe genau zu dem Kleid paßten.
    Ich lebe, dachte sie. Ich bin anscheinend nicht einmal verletzt. Im Augenblick zählt keine Vergangenheit, bloß die Gegenwart, das Jetzt, das schreckliche Jetzt nach der Sekunde Null.
    Mit einmal stellte sich auch die Hoffnung ein. Tausende von Menschen trieben hier zusammen. Unter den Tausenden wird jemand sein, der mich kennt. Vielleicht jemand, der mich verzweifelt sucht, vielleicht jemand, der mich liebhat. Er wird weinen vor Freude, daß ich lebe, er wird mich in seine Arme nehmen, meinen Namen flüstern, und ich werde aufwachen, endlich aufwachen.

III
    Immer, wenn das Telefon läutete, hatte Jürgen Siebert Hoffnung. Einmal mußte es Janine sein. Einmal mußte sie doch anrufen.
    Er nahm den Hörer ab. Es war aber nur sein Büro.
    »Chef«, meldete der kleine Hannemann ganz aufgeregt, »wir haben Aussicht, die
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