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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich
Autoren: Sandra Scoppettone
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an. Achten Sie auf Farben, Formen, Gerüche.«
    Hundert Jahre Einsamkeit verstreichen,
während Arlene dies tut.
    Kip fährt fort: »Sie fühlen sich immer
leichter, fast als schwebten Sie. Spüren Sie das, Arlene?«
    »Ja.« Ein kleines, sanftes Lächeln
erscheint.
    Ich frage mich, wo Arlene jetzt ist,
und wünschte, ich könnte ebenfalls dort sein.
    »Heben Sie den rechten Arm«, befiehlt
Kip.
    Arlene gehorcht.
    »Jetzt lassen Sie ihn wieder sinken.«
    Sie tut es.
    »Gut. Fühlen Sie sich wohl?«
    »Ja.«
    »Ich freue mich. Das ist schön. Sind
Sie einverstanden, wenn Lauren Ihnen jetzt einige Fragen stellt?«
    »Ja.«
    »Vielen Dank, Arlene. Ich möchte, daß Sie
sie ganz ehrlich beantworten. Sie werden sich an Einzelheiten erinnern, die Sie
vergessen haben.« Kip sieht mich an und nickt.
    Ich räuspere mich. Ich gebe zu, ich bin
nervös. Kip und ich haben das erst einmal im Rahmen einer meiner Fälle gemacht,
und das liegt schon einige Jahre zurück. Wie ich von damals noch weiß, kann
jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren.
    »Es ist ein warmer Septemberabend«,
sage ich. »In Megan Harbaughs Laden hat es einen Raubüberfall gegeben. Aber das
ist vorüber. Es ist jetzt neun Uhr durch. Wo sind Sie, Arlene?«
    »Ich bin in meinem Geschäft«, sagt sie
tonlos, mit geöffneten Augen.
    »Was machen Sie gerade?«
    »Ich sortiere meine Bestände.«
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Schrecklich.«
    »Sie sind durcheinander wegen der
Sache, die bei Meg passiert ist?«
    »Ja.«
    »Warum sind Sie nicht nach Hause
gegangen?«
    »Ich warte auf Jane. Sie will mich nach
einem Psychologiekurs abholen. Sie weiß es noch nicht. Ich könnte ihr eine
Nachricht hinterlassen, aber ich will nicht allein nach Hause gehen.«
    »Das ist verständlich. Wann erwarten
Sie Jane?«
    »Gegen Viertel nach zehn.« Sie schnappt
nach Luft und hält reflexhaft die Hand an ihre Brust.
    »Was ist los?«
    »Ein lautes Geräusch. Vielleicht eine
Fehlzündung, aber das glaube ich nicht. Ich renne zur Tür, öffne sie, schaue
die Avenue hinunter. Ich sehe, wie ein Mann aus Megs Laden kommt und Richtung
Charles rennt.«
    »Halten Sie den Mann an wie auf einem
Videorecorder. Stellen Sie auf Pause. Haben Sie ihn?«
    »Ja.«
    »Sind Sie sicher, daß es ein Mann ist?«
    »O ja.«
    »Wieso?«
    »Der Körperbau.«
    »Wie sieht er aus?«
    »Er ist ziemlich groß. Vielleicht 1,80
m. Er hat braune Haare, nach hinten gekämmt.«
    »Was meinen Sie damit, nach hinten
gekämmt?«
    »Ich... ich weiß nicht.«
    »Er rennt von Ihnen weg, ist das
richtig?«
    »Ja.«
    »Wie können Sie dann wissen, wie er das
Haar trägt?«
    »Ich... ich kann’s nicht wissen.«
    Arlene wirkt unruhig, und Kip gibt mir
ein Zeichen, daß ich zu einem anderen Punkt übergehen soll.
    »Haben Sie eine Ahnung, wie alt er
ist?«
    »Ich kann sein Gesicht nicht sehen,
wissen Sie.«
    »Woher wissen Sie, daß er ein Weißer
ist?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
    »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen,
fahren Sie fort.«
    »Er bewegt sich gut. Trotzdem habe ich
nicht das Gefühl, daß er ein sehr junger Mann ist. Vierzig... zweiundvierzig.
Oh, warten Sie. Er sieht über die Schulter.« Sie lächelt. »Er ist weiß. Und
sein Haar ist streng nach hinten gekämmt, ohne Scheitel.«
    »Was hat er an?«
    »Joggingsachen. Sie sind schwarz. Und
Laufschuhe. Auch schwarz.«
    »Hat er die Waffe in der Hand?«
    »Die Waffe?«
    »Sie haben doch einen Schuß gehört,
erinnern Sie sich?«
    »Ja.«
    »Also, sehen Sie die Waffe?«
    Sie zieht konzentriert die Brauen
zusammen, sagt leise, traurig: »Ich sehe keine Waffe.«
    »Ist schon gut. Zerbrechen Sie sich
darüber nicht den Kopf. Können Sie ihn noch näher beschreiben?«
    »Das ist alles«, sagt sie, als habe sie
ein Elternteil enttäuscht. »Nein, warten Sie. Da ist noch etwas. «Sie grinst.
Braves Kind.
    »Was denn, Arlene?«
    »Es blitzt«, sagt sie.
    Wir schauen uns alle verdutzt an. Es
blitzt?
    »Es fliegt hoch, wenn er läuft. Fliegt
von vorn nach hinten, glaube ich. Etwas, das er um den Hals trägt.«
    Ich bin aufgeregt bei dieser Eröffnung,
weiß jedoch nicht recht, wieso.
    »Es hängt an seinem Rücken hinunter«,
fährt sie fort. »Etwas, das er um den Hals trägt. Vielleicht ein Kreuz?«
    »Sie können nicht sehen, was es ist?«
    »Ein Medaillon?«
    Aber es ist eine Frage, ich weiß, daß
sie es nicht wirklich erkannt hat.
    »Nein. Nein. O Gott.«
    »Was ist?«
    »Er entkommt. Er ist um die Ecke
gebogen. Weg.«
    Ich schaue Kip an, die
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