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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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oder an ihnen kam etwas Menschliches zum Ausdruck, das auf eine gemeinsame Vergangenheit - oder Zukunft? - hinwies. In einigen Fällen sah Judith Gliedmaßen, und die entsprechenden Geschöpfe schienen nicht im eigentlichen Sinne zu schwimmen, sondern sprangen vielmehr durchs Wasser und den Hang empor.
    Andere waren so schlangenartig wie Aale, obgleich ihre Köpfe etwas Säugetierhaftes an sich hatten - die Augen glühten, und der Mund schien geschmeidig genug zu sein, um Worte zu formulieren.
    Diese Wesen boten einen faszinierenden Anblick, und Jude sah ihnen nach, als sie durch den Fluß schwammen. Nicht eine Sekunde lang zweifelte sie daran, wohin die Abgesandten der Tiefsee unterwegs waren, und daraufhin wurde ihr auch das eigene Ziel klar.
    »Wir haben uns lange genug ausgeruht«, wandte sich Judith an Hoi-Polloi.
    »Wird es Zeit, daß wir zum Palast wandern?«
    »Ja, ich glaube, es wird Zeit.«
    Sie verließen Hebberts Haus schon beim Morgengrauen, um einen möglichst weiten Weg zurücklegen zu können, bevor der Komet am Firmament zu hoch kletterte und die Luftfeuchtigkeit Kraft aus ihnen heraussaugte. Es war von Anfang an eine recht beschwerliche Reise gewesen, aber der Aufstieg stellte sich als besonders problematisch heraus, insbesondere für Judith, die das Gefühl hatte, in ihrem Bauch 132
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    kein ungeborenes Leben zu tragen, sondern massives Blei.
    Gelegentlich mußte sie eine Pause einlegen, um nach Luft zu schnappen. Bei der vierten Rast atmete sie flacher, und der stechende Schmerz im Unterleib wurde so intensiv, daß sie fast in Ohnmacht fiel. Ihre Pein - und Hoi-Pollois Schreie - riefen Helferinnen herbei, und Jude sank auf ein weiches Lager aus Blättern, Blumen und Gras, als ihre Fruchtblase platzte.
    Knapp eine Stunde später, kaum einen Kilometer von den Resten des Palastwalls entfernt, lag Judith in einem Hain und gebar das erste und einzige Kind des Autokraten Sartori, während um sie herum türkisfarbene Vögel sangen.
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    Gentle und Montag verließen Kwem mit unmißverständlichen Richtungsangaben jener mysteriösen Frau, die den See in der Zapfengrube geschaffen hatte, aber trotzdem trafen sie erst sechs Wochen nach Judith und Hoi-Polloi in Yzordderrex ein.
    Vielleicht lag es daran, daß Montags sexueller Appetit nach dem Erlebnis in der Palastruine nicht mehr annähernd so ausgeprägt war wie vorher, was ihn dazu veranlaßte, weitaus weniger Wert auf Eile zu legen. Der zweite und vielleicht ebenso wichtige Grund bestand in Gentles Interesse an der Kartographie. Es verging kaum eine Stunde, in der er sich nicht an irgendwelche Provinzen oder Wegweiser erinnerte, und dann hockte er sich einfach nieder, holte Skizzen hervor und fügte ihnen neue Einzelheiten hinzu. Mit großer, fast religiös anmutender Sorgfalt zeichnete er Hoch- und Tiefland, Wälder und Ebenen, Straßen und Städte und murmelte dabei ihre Namen wie eine Litanei. Bei solchen Gelegenheiten ließ er sich von nichts ablenken: Er ignorierte die Möglichkeit, in einem Wagen mitgenommen zu werden; selbst einem Wolkenbruch schenkte er keine Beachtung. Die Karte von Imagica sei sein wahres Lebenswerk, erklärte er Montag, und er bedauere nur, so spät damit begonnen zu haben.
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    Trotz der häufigen Unterbrechungen legten sie Kilometer um Kilometer zurück und kamen der Stadt mit jedem Tag näher.
    Eines Morgens, als sie neben einigen Büschen erwachten, zerfaserten die Dunstwolken und gaben den Blick frei auf einen riesigen grünen Berg in der Ferne.
    »Was ist das für ein Ort?« fragte Montag.
    Gentle erwiderte verblüfft:
    »Yzordderrex.«
    »Und der Palast? Und die Straßen? Ich sehe nur Bäume und Regenbogenschimmern.«
    Gentle teilte die Verwirrung des Jungen.
    »Früher war dort alles grau und schwarz und blutig.«
    Als die Distanz schrumpfte, schien der Berg noch grüner zu werden, und bald trug ihnen der Wind so würzige Aromen entgegen, daß Montags Enttäuschung neuer Hoffnung wich.
    Vielleicht sei es doch nicht so übel, meinte er. Wenn sich Yzordderrex in einen Dschungel verwandelt hatte..., dann mochten die Frauen wohl Amazonen sein, bekleidet nur mit einem verführerischen Lächeln. So etwas konnte er eine Zeitlang ertragen.
    An den unteren Hängen beobachteten sie Dinge, die noch weitaus außergewöhnlicher waren als alles, was sich der Junge vorgestellt hatte. Die Bewohner von Neu Yzordderrex waren bereits an etwas gewöhnt, das die Besucher bis zur Sprachlosigkeit verblüffte: zum Beispiel Wasser, das nach
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