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Im Zeichen des Schicksals

Im Zeichen des Schicksals

Titel: Im Zeichen des Schicksals
Autoren: Mina Hepsen
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Zeit steht nicht auf der Liste meiner Lieblingstage, aber sie hätte auch schlimmer sein können. Viel schlimmer. Am dritten Tag fand ich Tonys Bäckerei und die alte Frau, die ich das Mehl hatte tragen sehen. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Ich hatte Hunger, ganz schrecklichen Hunger, und der Geruch von frisch gebackenem Brot führte mich eine kleine Seitenstraße hinunter, und da war sie: Tonys Bäckerei , genau wie in meiner Vision. Die alte Frau hieß Francesca. Tony, ihrem Mann, gehörte die Bäckerei.
    Als ich Tony mitteilte, dass ich einen Job bräuchte und dass ich achtzehn sei, wirkte er skeptisch, aber er stellte nicht allzu viele Fragen. Seine Frau wurde allmählich zu alt für die Arbeit, und er war zu geizig, um einen anständigen Lohn für eine Hilfskraft zu bezahlen. Er begriff, dass ich backen konnte und dass ich bereit war, für sehr wenig Lohn hart zu arbeiten, daher stimmte er einem Handel zu: Er würde mich in der schäbigen Wohnung über dem Laden wohnen lassen, würde Wasser- und Stromrechnung übernehmen und mich in der Bäckerei essen lassen – und als Gegenleistung musste ich zehn Stunden am Tag arbeiten. Ich stimmte seinen Bedingungen zu, nachdem er eingewilligt hatte, mir am Tag zehn Dollar für »Nebenausgaben« zu zahlen.
    Es gab viel schlechtere Jobs. Die Arbeit bei Tony begann um drei Uhr morgens mit der Vorbereitung des Teigs. Darauf ging es mit den Broten weiter, dann kamen die Sandwiches, und um zwei Uhr nachmittags war ich fertig. Es war wirklich nicht fürchterlich viel Arbeit, vor allem da ich es gewohnt war, noch mehr zu arbeiten und überhaupt kein Geld dafür zu bekommen. Trotzdem waren die ersten Wochen schwierig. Ich fand es schrecklich, nach der Arbeit die Bäckerei zu verlassen, weil ich nicht allein sein wollte. Die Wohnung über meiner stand leer, bis auf die Ratten. Ich konnte sie umherhuschen hören, wenn ich nachts versuchte einzuschlafen, und daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Ich schlief nicht gut. Und es waren nicht nur die Ratten oder das Alleinsein, was mich nachts wach hielt, es war auch die Angst davor, dass die Billingtons mich finden könnten.
    Einige Wochen, nachdem ich angefangen hatte, für Tony zu arbeiten, weckte mich eines Nachts das Klappern der Feuerleiter aus unruhigem Schlummer. Ich flehte um eine weitere Vision; eine, die mich an einen Ort führen würde, wo es mehr Wärme gab, oder zu jemandem, der sich um mich kümmern würde. Es war natürlich reines Wunschdenken. Keine Vision stellte sich ein, und ich sah nur Randys merkwürdig glühende Augen in jedem dunklen Winkel des Raums. In meiner Angst vor dem Alleinsein zog ich die Karten hervor, breitete sie auf dem Bett aus und bat sie um Hilfe. Nichts geschah, aber mein Blick wanderte immer wieder zum Herrscher .
    Der Herrscher sitzt auf seinem Thron aus Gold und Widderköpfen, hoch über der Welt, die er regiert. Er ist die Vaterfigur der Tarotkarten, der Mann mit dem weißen Bart, der nah und fern mit Weisheit und Gelassenheit regiert. Einer Auslegung zufolge steht der Herrscher für die Überlegenheit von Intelligenz und Vernunft über Leidenschaft und Gefühl. Er ist das Symbol von Selbstvertrauen und Beständigkeit, der unbeugsame Geist.
    Ich schob die Karte unter mein Kissen und ließ Gesicht und Blick des weisen Herrschers meinen Kopf erfüllen. Ich versicherte mir, dass auch mein Geist unbeugsam sei, und kämpfte meine Tränen nieder. Damals schwor ich mir, nie wieder zu weinen. Ich hatte mit der Angst abgeschlossen. Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich in Angst verbracht. In Angst davor, vom Waisenhaus weggeschickt zu werden, in Angst vor Janets Drohungen, vor Randys Fäusten, vor den dunklen Straßen der Stadt und vor der Einsamkeit. Ich würde mir nie wieder erlauben, Angst zu haben.
    Nach dieser Nacht wurde allmählich alles besser.
    Wenn ich mein Geld für Essen und den wöchentlichen Zuschuss für »Nebenausgaben« zusammenhielt, hatte ich immer genug für Kleider und Bücher aus den umliegenden Secondhandshops. Da Francesca darauf bestand, erhöhte Tony meine zehn Dollar einige Monate später auf zwanzig. Mehr und mehr nutzte ich das zusätzliche Geld, um Mehl und andere Zutaten zu kaufen, sodass ich auch während meiner Freizeit backen konnte. Aus Zutaten für zehn Dollar konnte ich leicht dreißig machen, indem ich meine Backwaren auf dem Campus der nahen Universität verkaufte. Ich konnte echte Rücklagen bilden. Ohne das Geld, das ich für Bücher und
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