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Im Zeichen des Schicksals

Im Zeichen des Schicksals

Titel: Im Zeichen des Schicksals
Autoren: Mina Hepsen
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Die Polizei traf kurze Zeit später ein; vom Gewitter entwurzelte Bäume hatten sie aufgehalten. Der Arzt, der sie begleitete, meinte, es sei eines der schlimmsten Gewitter gewesen, die er je erlebt habe. Er lächelte viel, und sobald er verkündet hatte, dass mir nichts fehle, machte eine große rothaarige Polizistin ein Foto von mir – für die Suchplakate, die sie überall in der Stadt aufhängten. Berühmter als damals werde ich wohl nicht mehr werden.
    Zwei Wochen vergingen, aber niemand erschien, um Anspruch auf mich zu erheben.
    Am fünfzehnten Tag setzte mich Mr. Stevenson, der Leiter des Waisenhauses, in eine Ecke seines Büros, während er und eine Frau von der Fürsorge über mein Schicksal entschieden. Sie sagten: »Sarah, das Waisenhaus ist jetzt dein Zuhause.« »Zuhause« war nicht ganz zutreffend, da sie nicht vorhatten, mich auch dauerhaft dort wohnen zu lassen, aber das war nicht die erste Lüge. Die erste Lüge war Sarah .
    Ich heiße nicht Sarah.
    Jahre später, als ich an einer Bushaltestelle in der Nähe des Colleges von Boston ein von Kaffeeflecken verunziertes Exemplar von Oliver Twist fand, kam mir der traurige Gedanke, dass ausgerechnet eines der wenigen berühmten Bücher, in denen ein Waisenhaus eine wichtige Rolle spielt, diese Institution so düster und schrecklich erscheinen lässt. Das Waisenhaus von Somerville war da ganz anders. Tatsächlich wirkte das Gebäude von außen recht hübsch.
    Es war ein geräumiges zweistöckiges Haus mit großen weißen Fenstern und wuchernden Weinreben, die auf beiden Seiten des hohen Bogentors wuchsen. Vor den Fenstern im ersten Stock waren schmale Eisensimse angebracht, die die Angestellten mit blauen Blumen in kleinen Töpfen schmückten. Im Sommer sonnten sich dort gern die Eidechsen. Selbst das rote Ziegelsteindach wirkte heiter mit seinen beschädigten Ziegeln und dem schiefen Schornstein, der nur als Nistplatz für Vögel diente.
    Im Inneren war das Waisenhaus nicht ganz so hübsch. Die Teppiche waren abgelaufen, die einstmals fröhlich gemusterte Tapete mit den gelben Blumen war rissig und stand überall an den Ecken ab, und die eisengefederten Betten in den Schlafsälen waren in einem hässlichen, zerkratzten Grau gehalten. Mir machte das alles jedoch nichts aus. Jeden Tag, wenn wir zum Mittagessen gerufen wurden, strich ich mit den Fingern über die ausgeblichenen Blumen in den Fluren und zählte: Drei Schritte lagen zwischen den beiden ersten Rissen, jede Blume hatte sechs Blätter, zehn abgeschälte Tapetenstückchen gab es zwischen Bad und Küche, achtundfünfzig Risse waren es insgesamt.
    Meine Jahre im Waisenhaus waren die besten meines Lebens. Unsere Aufseher waren freundlich, es gab immer genug zu essen, und obwohl die Betten unbequem waren und die Decken zu dünn, um uns vor der eisigen Zugluft zu schützen, war das Leben alles andere als schlecht. Mrs. Rachel las uns Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vor, Mrs. Gotts veranstaltete Filmabende im Hobbyraum, und Mr. Stevenson half uns persönlich bei unseren Hausaufgaben, wenn wir von der Schule zurückkamen.
    Ich war seit Jahren nicht mehr in der Schule.
    Ich habe die Schule immer geliebt.
    Einmal, nach einem besonderen Weihnachtsessen mit Vanilleeis und Apfelkuchen, erklärte mir Mr. Stevenson, dass ich eine Begabung habe. »Du hast eine besondere Gabe, Sarah. All deine Lehrer haben mir das gesagt«, unterstrich er seine Worte. Er meinte mein Gedächtnis.
    Obwohl ich mich an nichts aus der Zeit vor dem Waisenhaus erinnern konnte, hatte ich so ziemlich alles gut im Gedächtnis, was seither passiert war. Als ob mein Gehirn Schnappschüsse von allem machte, was meine Augen sahen, und sie dann in kleinen Schubladen lagerte, die ich bei Bedarf durchstöbern konnte. Ich weiß heute noch die Zahl der Betten im Mädchenschlafsaal. Ich erinnere mich an die einzelnen Farben im Kreuzmuster von Mrs. Rachels Lieblingsteetasse. Auch sechs Jahre später kann ich immer noch die kleinen grünen Äpfel auf der Kunststofftischdecke sehen, die Mrs. Gotts bei besonderen Anlässen über den langen Küchentisch breitete … wie etwa an jenem Weihnachtstag, an dem mir Mr. Stevenson eröffnete, dass ich eine besondere Gabe hätte.
    Er sagte mir auch, dass ich zu Großem bestimmt sei. »Du wirst es auf dieser Welt weit bringen«, versicherte er mir. »Ich kann es förmlich vor mir sehen. Du wirst Ärztin! Oder Rechtsanwältin!«
    Er log natürlich, aber ich mache ihm deswegen keinen Vorwurf. Ich kenne mich
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