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Im Zeichen der Angst Roman

Titel: Im Zeichen der Angst Roman
Autoren: Mika Bechtheim
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ein neues, und die beiden Menschen, die sie am meisten geliebt hatten, hat sie mit abgelegt, wie man einen alten Mantel ablegt, der einem nicht mehr gefällt. Monatelang fuhr ich in jenem Sommer 1989 abends durch die Gegend, um den Gedanken in meinem Kopf zu entkommen - und wohl auch in der Hoffnung, sie vielleicht irgendwo zufällig zu treffen oder zu sehen, wie sie aus einem Geschäft oder einem Restaurant kommt. Und ihr dann all die Fragen zu stellen, die mich verfolgten.
    Immer wieder habe ich mich in den ersten Jahren gefragt, weshalb sie mich nur mit einem Brief aus ihrem Leben verbannte? Weshalb redete sie nicht mit mir? Ich war doch erwachsen. Hätte sie mir ihre Gründe erklärt, ich hätte sie verstanden. Doch so fragte ich mich, was wir falsch gemacht hatten. Ob wir sie nicht genug geliebt hatten. Oder ob sie uns nicht genug geliebt hatte. Wo sie wohl war? Mit wem? Warum? Warum? Diese
letzte Frage nagte in mir auch jetzt noch, wenn ich über mein Leben nachdachte. Dann lag ich wach und fragte mich trotz aller selbst errichteten Mauern und Schutzwälle, weshalb mich das Schicksal so hart getroffen hat? Ich will nicht von Strafe reden. Denn weshalb sollte ich bestraft werden? Ich hatte nichts Unrechtes getan.
    Wenn ein Mensch und noch dazu die eigene Mutter verschwindet, nagen immer Zweifel in einem: Lebt sie noch? Atmet sie irgendwo dieselbe Luft wie ich? Ist sie glücklich? Oder traurig? Denkt sie manchmal an uns und fragt sich, wie es uns geht? Würde sie ihre Entscheidung gerne rückgängig machen, oder hat sie sie nie bereut? Und vor allem: Weshalb? Weshalb hat sie diese Entscheidung getroffen? Diese Fragen verfolgten mich seit zwanzig Jahren. Sicher, ich konnte sie verdrängen, mir in Gedanken eine mit Samt ausgeschlagene Zigarrenkiste bauen und jedes Mal, wenn sie durch irgendeinen Anlass hochkamen, dort hineinpacken und den Deckel zuklappen. Das konnte ich, und im Verlauf meines Lebens hatte ich gelernt, den Deckel immer fester zu verschließen.
    Ich war 1989 mehrmals von der Polizei vernommen worden. Immer wieder musste ich etwas zu der Ehe meiner Eltern sagen. Sie führten eine Ehe wie Tausende andere auch. Sie hatten in den 1950er Jahren geheiratet, ein Haus gebaut und 1964 ihre Tochter - mich - bekommen. Sie meisterten alle Schwierigkeiten gemeinsam und waren in diesen 30 Jahren nicht einen Tag getrennt. Doch ein paar Monate, bevor meine Mutter verschwand, war etwas geschehen. Etwas Namenloses hatte sich in die Ehe meiner Eltern geschlichen, und man merkte es nur daran, dass sie begonnen hatten, sich aus dem Weg zu gehen. Sie stritten sich nicht. Das hatten sie nie getan. Wenn mein Vater wütend auf meine Mutter war, ging er im Sommer in den Hausgarten oder fuhr zu seinen Bienen. Im Winter ging er in den Keller und schnitzte einen neuen Kerzenständer oder drechselte Rosetten, die er dann an irgendwelche Schränke
oder Kommoden klebte. Aber in diesem Frühjahr 1989 verschwand er bereits morgens zu seinen Bienen und kam erst zurück, wenn meine Mutter längst zu Abend gegessen hatte. Und meine Mutter begann allein, seltsame Ausflüge zu machen.
    Natürlich durchleuchtete die Polizei damals auch mein Alibi. Doch ich verteidigte an dem Tag im 350 Kilometer entfernten Jena meine Diplomarbeit und nahm zwei Tage nach dem Verschwinden meiner Mutter mein Diplomzeugnis aus der Hand des Rektors der germanistischen Fakultät entgegen.
     
    Auch das mussten Mankiewisc und Groß wissen, wie sie ebenso wussten, dass ich laut Gerichtsurteil eine Mörderin war. Selbst wenn das offizielle Urteil nicht von Mord, sondern von Totschlag sprach. Für einen Mord braucht man so genannte niedere Motive. Habsucht, Neid, Gier. Das alles waren laut Ank lage aber nicht meine Beweggründe. Ich hatte nur einen einzigen Grund: Rache. Und theoretisch war das richtig. Nur dass der Mann meine Tochter nicht entführt und ich ihn nicht erschossen hatte.
    Doch alles sprach gegen mich. So machte mein Anwalt einen Deal mit der Staatsanwaltschaft, ich bekannte mich schuldig und bekam neun Jahre mit der Option, bei guter Führung nach sechs Jahren entlassen zu werden.
    Ich beschloss, Groß’ Frage, ob ich schon einmal von der Polizei vernommen worden war, nicht zu beantworten. Sie war zu lächerlich.
    Mankiewisc und Groß wiederholten die Frage nicht.
     
    Die Pathologische Abteilung des Landeskriminalamtes war im Keller.
    Wir nahmen den Fahrstuhl und fuhren ins Untergeschoss. Schweigend liefen wir einen neonerleuchteten Gang entlang.
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