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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens
Autoren: Courtney Milan
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daran dachte, wozu Harcroft fähig war, liefen ihr kalte Schauerüber den Rücken.
    „Wenn ich ihn aufhalten kann“, sagte Ned leise, „schaffe ich alles.“
    „Aber du kannst ihn nicht aufhalten“, entgegnete sie, setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und tastete nach seiner Hand. „Du kannst nicht alles tun, was du dir in den Kopf setzt. Niemand kann alles schaffen. Aber daran ist nichts auszusetzen. Ich respektiere dich, auch wenn du nur auf einem Bein humpeln kannst. Du bist nicht schwach, nur weil du einige Zeit das Bett hüten musst.“
    Er zog seine Hand zurück, ehe sie danach greifen konnte. „Darum geht es nicht.“
    „Worum geht es dann?“
    „Der Punkt ist nicht der, dass ich möglichst schnell wieder gesund werden will. Es geht … es geht …“
    „Es geht darum, dass du meine Hilfe nicht annehmen willst.“
    Jäh hob er den Kopf, seine Augen funkelten. „Ich brauche keine Hilfe“, widersprach er zähneknirschend. „Ich habe nicht die Absicht, dir zur Last zu fallen, Kate.“
    „Aber du fällst mir nicht zur Last.“ Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
    Er wandte den Blick zur Seite. „Willst du wissen, warum ich keine Hilfe annehme? Warum ich deine Anteilnahme nicht akzeptiere, so gut sie auch gemeint sein mag? Aus dem gleichen Grund, warum ich im kalten Zimmer schlafe. Warum ich Heu auflade, statt es Knechten zu überlassen. Weil ich mir keine Schwächen erlauben kann.“
    „Aber ich halte dich doch nicht für schwach, wenn ich …“
    „Du willst mich in Watte packen, damit mir nichts zustößt. Möchtest du wissen, was in China geschah, Kate?“
    „Ich dachte …“
    „Willst du wissen, was wirklich geschah, nachdem sie mich aus der Kloake zogen? Ich hätte mich beinahe umgebracht.“
    „Ein Unfall …“
    „Nein. Als ich Captain Adams in China konfrontierte, warich nicht nur verzweifelt. Ich kämpfte um das letzte bisschen Entschlusskraft, das noch in mir war, aber ich war gelähmt von schwarzer Verzweiflung.“
    Verständnislos sah sie ihn an.
    Er fuhr leise fort: „Du weißt nicht, was ich meine, wenn ich von schwarzer Verzweiflung spreche. Du denkst, das sei eine Übertreibung. Nachdem Captain Adams mich in die Kloake werfen ließ, verstärkte sich dieses Gefühl nur noch. Ich wechselte das Badewasser dreimal. Es nützte nichts. Ich konnte den Gestank nicht aus meinem Hirn waschen, auch wenn ich mir die Haut wund schrubbte.“
    Ned starrte auf einen Fleck an der Wand, hielt seine Knie umklammert. „Er hatte gesiegt. Und es gab keine Flucht vor der Wahrheit: Ich war eine nutzlose Jammergestalt, ein verwöhnter Bengel, der nach China geschickt worden war, weil man hier keine Verwendung für ihn hatte.“
    „Du weißt, dass das nicht stimmt.“
    Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Zunächst verspürte ich nur den Drang, aufs Meer zu kommen, als könne mich die Nähe des Wassers reinwaschen. Ich nahm ein Boot und ruderte hinaus.“ Er seufzte. „Seltsamerweise fühlte ich mich aber gefangen, mit nichts um mich herum als dem endlosen Ozean.“
    „Du hättest in einen Sturm geraten und ertrinken können.“ Erneut versuchte sie, seine Hand zu fassen, und er entzog sie ihr wieder. „Du warst völlig verwirrt. Das ist doch verständlich.“
    „Versuche nicht, die Dinge schönzureden, Kate.“ Seine dunkle Stimme hallte durchs Zimmer. „Du möchtest, dass ich dir vertraue? Du möchtest verstehen, was ich meine, wenn ich von Dunkelheit spreche? Dann hör mir zu. Ich hatte eine Pistole bei mir. Und ich hielt sie mir an die Schläfe.“
    Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr.
    „Ich war verdammt nahe dran, abzudrücken. Und es war weder Angst noch Hoffnung auf Hilfe von irgendwo, die mich davon abhielt. Vor die Wahl gestellt, zu leben oder zu sterben,kam ich zu der Einsicht, dass ich leben wollte. Wirklich leben, nicht nur in den Tag hinein, von einem sinnlosen Abenteuer ins nächste stolpern und darauf warten, erneut in die Finsternis zu stürzen. Also hör auf, mich zu bedauern. Ich habe überlebt.“
    Kate suchte nach den richtigen Worten. „Ich glaube doch auch nicht, dass du schwach bist, nur weil du als junger Mann …“
    Wütend funkelte er sie an. „Nein, ich bin nicht schwach. Ich habe überlebt, weil ich mich aus eigener Kraft aus dem Dreck gezogen habe. Weil ich wusste, dass ich damit aufhören muss, mir wie eine Last für alle vorzukommen, wenn ich überleben will. Um zu begreifen, wer ich bin und warum ich tue, was ich tue, musst du wissen,
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