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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition)
Autoren: Kate Rhodes
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konzentriert, also trat ich langsam auf ihn zu, schob vorsichtig die Hand in die Brusttasche von seinem Hemd und hielt ihm den Schlüssel hin.
    »Guck, hier ist er. Du hättest dich also einfach selbst reinlassen können. Ich würde dich niemals aussperren.«
    Ich musste zu dicht an ihn herangekommen sein, oder vielleicht hatte ihm auch meine Stimme Angst gemacht. Er zuckte zusammen, ließ die Chipstüte zu Boden fallen und stürzte mit geballten Fäusten auf mich zu.
    Ich rannte aus der Küche durch den Flur und warf die Wohnungstür hinter mir zu. Gerade noch im letzten Augenblick gelang es mir, von außen abzusperren, und ich lehnte mich gegen die Tür. Seine Füße trommelten gegen das Holz, doch erst als er erschöpft war und ich nichts mehr hörte, rannte ich nach unten, um nach seinem Van zu sehen. Ein zerrissener Schlafsack lag auf seinem Klappbett, und dort, wo sich keine schmutzstarrenden Unterhosen, Handtücher und Hemden auf dem Boden türmten, waren Zeitungen verstreut. Ich sammelte die Wäsche ein, zwang mich, zurück ins Haus zu gehen, blieb aber am Fuß der Treppe noch mal stehen und wog die Risiken gegeneinander ab.
    Vielleicht schlüge er mich, wenn ich wiederkäme, grün und blau, aber wenn ich einen Krankenwagen riefe, machte er sich, wenn er die Sirene hörte, sicher sofort wieder aus dem Staub. Ich hätte auch bei einem Nachbarn klopfen und um Hilfe bitten können, doch nach ein paar tiefen Atemzügen öffnete ich leise meine Tür und trat zitternd ein.
    Will hockte im Wohnzimmer, plapperte leise vor sich hin und wühlte in einem Schrank. Er hatte längst wieder vergessen, dass er kurz zuvor – aus welchem Grund auch immer – völlig ausgerastet war. Ich stopfte seine Kleider in die Waschmaschine und gab eine großzügige Menge Waschpulver dazu. Währenddessen hatte Will einen Schuhkarton voller Papiere in dem Schrank entdeckt und blätterte sie durch. Trotzdem hielt ich vorsichtshalber weiter einen möglichst großen Abstand zu ihm ein.
    »Hast du etwas Interessantes entdeckt?«, fragte ich in möglichst ruhigem Ton.
    »Bilder«, murmelte er.
    Er verteilte Fotos auf dem Holzboden, als spielte er ein Kartenspiel. Eins der Bilder zeigte, wie mein Vater in einem Familienurlaub mich und meine Mutter eng umschlungen hielt, während Will, der damals schon mehrere Zentimeter größer als ich selbst gewesen war, ein wenig abseits stand. Ein anderes Foto zeigte ihn am Tag der Abschlussfeier seines Colleges in Cambridge. Er sah darauf unbesiegbar aus, ein attraktiver junger Mann, mit beinahe weißem Haar. Er zog das nächste Foto aus dem Schuhkarton. Man sah ihn darauf händchenhaltend mit einer der schwarzhaarigen Schönheiten, auf die er damals abgefahren war. Sie blickte zu ihm auf und wirkte fest entschlossen, ihn nie wieder loszulassen, weil er eindeutig ihr Traumprinz war. Ich biss mir auf die Lippe, denn das Foto zeigte mir die Kluft zwischen dem Gestern und dem Heute überdeutlich auf.
    »Brauchst du irgendetwas, Will?«
    Er war zu sehr in sein neues Spiel vertieft, um mir zu antworten, deshalb ging ich ins Bad, und bis ich geduscht hatte, geschminkt und für die Arbeit angezogen war, war Will schon nicht mehr da. Er hatte zwar die Wohnungstür einfach hinter sich offen stehen lassen, dafür aber sein anderes Werk vollendet, ehe er verschwunden war: Der ganze Fußboden des Wohnzimmers war gleichmäßig mit Reihen alter Aufnahmen bedeckt. Will hatte sie chronologisch sortiert, angefangen mit uns zweien als Babys, dann als Schulkinder in Uniform, als Twens mit Lola an einem Strand und am Schluss mit Fotos von sich selbst, wie er als junger Broker strahlend vor der Börse steht, als hätte ihm jemand die Schlüssel der City überreicht. Ich ließ das Foto mit der Rückseite nach oben in die Schachtel fallen. Ein Teil von mir hätte die Aufnahmen am liebsten kurzerhand verbrannt, denn ich musste schließlich akzeptieren, dass er nie wieder so aussehen würde – triumphierend und so selbstbewusst, als könnte er sich mühelos jeden Traum erfüllen.
    Auf dem Weg zur Arbeit radelte ich durch die Tooley Street. Es war überraschend kalt, und auf dem Asphalt glitzerte der Frost. Ich stellte mir kurz vor, so lange zu strampeln, bis am Ende meine Beine ihren Dienst versagten, all die kranken Menschen und vor allem die betuchten Hypochonder, die ihre Neurosen pflegten und dann eines Termins wegen bei meiner Sekretärin Schlange standen, zu vergessen und ganz einfach abzuhauen. Stattdessen fuhr ich weiter
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