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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition)
Autoren: Kate Rhodes
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am London Dungeon vorbei, wo ich bereits eine große Gruppe auf wächserne Mordopfer und künstliche Eingeweide gieriger Menschen stehen sah, kettete am Great Maze Pond mein Fahrrad an ein Geländer an und blickte am Krankenhaus – einem vierunddreißigstöckigen, mausgrauen Ungetüm mit winzigen Ausgucken – hinauf. Kein Wunder, dass dem Guy’s der Preis für das hässlichste Gebäude Londons zugesprochen worden war. Hätte ich noch Zeit gehabt, hätte ich ausrechnen können, welche Glasscheibe zu meinem Raum gehörte, dem fünften von links im vierundzwanzigsten Geschoss.
    Das Erklimmen der Treppe fiel mir nicht so leicht wie sonst. Schon im zehnten Stock bereute ich, dass ich nicht gefrühstückt hatte, weil mir ungewöhnlich flau im Magen war, und vierzehn Etagen höher kam es mir so vor, als würde sich alles um mich drehen, und als atmete ich mehr Sauerstoff, als meine Lungen fassen konnten, ein.
    In Dreiviertelstunden-Intervallen gaben sich meine Patienten die Klinke in die Hand, und ich fertigte sie automatisch ab. Einen Sieg aber errang ich doch. Das Mädchen mit der fortgeschrittenen Magersucht lag inzwischen sicher auf der Frauenstation, und als ich sie besuchen ging, hing sie an einem Tropf, durch den ihr verhungernder Körper mit Salz und Mineralien versorgt wurde. Die Karte am Fußende des Bettes erinnerte mich daran, dass sie Laura Wallis war, fünfzehn Jahre alt, bei der Einlieferung gerade einmal zweiunddreißig Kilo leicht.
    Ihre Mutter saß ganz vorne auf der Kante eines Stuhls dicht neben ihrem Kopf und sah derart grau und eingefallen aus, als hätte sie vor einer halben Ewigkeit zum letzten Mal ein Auge zugemacht.
    »Wie geht es Laura heute?«, fragte ich.
    »In einem derart schlimmen Zustand habe ich sie nie zuvor erlebt. Sie schafft es nicht mal, wach zu bleiben.« Der Blick der Frau war leer wie der von einem Trauma-Opfer, als durchlebe sie erneut den Augenblick vor einer Bombenexplosion. »Warum tut sie sich das an?«, wisperte sie rau.
    Natürlich hätte ich ihr alle klinischen Faktoren nennen können: Depression, Körperdysmorphie, ein niedriges Selbstwertgefühl. Doch all das hätte nichts genützt.
    »Glauben Sie mir, Lauras Chancen, diese Krankheit zu besiegen, stehen gut.«
    Selbst im Schlaf wirkte das Mädchen angespannt, und unter seiner durchscheinenden Haut konnte ich jeden ihrer Knochen sehen. Trotzdem stünden ihre Überlebenschancen bei achtzig Prozent, wenn man sie dazu überreden könnte, dass sie endlich wieder etwas aß.
    »Ich komme morgen wieder vorbei.«
    Mrs Wallis nickte, ohne den Blick von ihrer Tochter abzuwenden. Vielleicht hatte sie ja Angst, dass das Mädchen sich vollends in Luft auflösen würde, sähe sie nur einen Augenblick woandershin.
    Auf dem Weg nach Hause hielt ich noch am Supermarkt in der Tower Bridge Road und kaufte frisches Brot, Milch Müsli, Bananen, Camembert – zwei prall gefüllte Tüten voller Essen – ein. Falls Will heute Abend wiederkäme, fände er zumindest einen vollen Kühlschrank vor.
    Ich ging in die Küche, klatschte einen Klumpen Butter in die Pfanne, gab zwei Eier und drei Scheiben Speck dazu, packte alles auf eine fast daumendicke Scheibe Brot und aß im Stehen, ohne auch nur meinen Mantel auszuziehen.
    Während ich noch an meinem letzten Bissen kaute, klingelte das Telefon.
    »Hallo?«
    »Jetzt bist du mit einem Gegenbesuch bei mir dran.« Sean klang vollkommen entspannt. Anscheinend hatte er wie immer, wenn er mit dem Operieren fertig war, noch eine Runde Squash gespielt.
    »Ich kann nicht, tut mir leid. Vielleicht kommt mein Bruder noch vorbei.«
    »Kein Problem, dann komme ich eben zu dir. Dann lerne ich ihn wenigstens endlich mal kennen.«
    Ich blickte mich in der Küche um. Überall fanden sich Hinweise auf Sean. Die Reste unseres Mahls vom Vorabend stapelten sich noch neben der Spüle, sein Schal hing über der Rückenlehne eines Stuhls, und seine Reisetasche lag neben der Tür.
    Ich atmete tief durch.
    »Hör zu, es tut mir leid, aber ich denke, wir sollten erst mal eine Pause machen.«
    Als er endlich etwas sagte, hatte seine Stimme einen so eisigen Klang, als hätte er den Hörer jemand anderem gereicht. »Und wie definierst du eine Pause?«
    »Ich meine, wir haben uns in letzter Zeit fast jeden Tag gesehen.«
    »Klingt, als würdest du versuchen, unsere Beziehung zu beenden«, stellte Sean mit zornbebender Stimme fest.
    »Tut mir leid. Ich fühle mich ein bisschen eingeengt, das ist alles.«
    »Meine Güte, Alice. Wir
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