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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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Jahren, es waren wohl eher Jahrhunderte, der Stein dann auf den Dorfplatz vor die Osteria Weiße Amsel von Pilin gebracht wurde, um auf ihm die Verträge mit dem rechten Fuß zu besiegeln, den man genau dort hinsetzte, wo Christus ihn hingesetzt hatte. Und das war ein Siegel, das man nie brechen durfte, denn es war, als habe man Christus zum Zeugen gehabt.
    Alle hatten sie Angst vor diesem Stein, erzählte Santo, und respektierten ihn mehr als den Altar in der Kirche. Dann erzählte er mir die Geschichte. Es gab einmal einen vom Spessepass, der sein Wort nicht hielt, nachdem er den Fuß auf den Abdruck von Jesus Christus gesetzt hatte. Es ging um einen Kartoffelacker auf dem Col delle Acacie, welchen er dem alten Legnòle verkauft hatte. Der vom Spessepass, er hieß Toni Corona de Piuma, heimste sich zwar die Anzahlung ein, aber seinen Acker gab er nicht mehr her, denn er war ein arroganter Dreistling. Darauf wurde er von acht Männern abgeholt und gewaltsam zum Stein mit Gottes Abdruck gebracht. Vier hielten ihn fest, und drei sprachen das Urteil über ihn. Der Letzte dann schlug ihm mit einem Axthieb alle Zehen des rechten Fußes ab, durch den Schuh hindurch. Daher stammt die Kerbe auf dem Stein: von der Axtschneide, nachdem sie Schuh und Zehen von Toni Piuma delle Spesse durchschnitten hatte, der sein Wort nicht gehalten hatte.
    Das war die Geschichte, die mir Santo della Val erzählte zu der Kerbe, die nicht weit von der meines eigenen Axthiebs zu sehen war, welchen ich neben dem Abdruck von Christus hinterlassen hatte, weil es mir nicht gelungen war, dem Stiel eine Spitze zu hauen, ohne den Stein zu berühren.

Inzwischen hatte ich viel gelernt bei Santo und hätte auch weiter als Holzfäller gearbeitet, wenn unsere Tante sich nicht zu Tode getrunken hätte. Ich war zwei Tage lang oben im Wald gewesen, und als ich gegen Mittag wieder hinabstieg, erwartete ich, die Alte im Haus vorzufinden. Es war ein kalter Novembertag, und als ich vom Steilhang am Tamer hinunter ins Dorf schauen konnte und bemerkte, dass kein Rauch aus unserem Kamin stieg, befürchtete ich gleich Schlimmes. Wie?, sagte ich bei mir, die Alte hat kein Feuer gemacht? Unmöglich. Selbst im Sommer machte sie sonst Feuer, und erst recht im November. Also ging ich schneller, denn es war sonderbar, dass der Kamin nicht rauchte. Als ich am Haus ankam, war die Tür zugesperrt: noch sonderbarer. Unsere Tante sperrte nie zu. Und während ich nach ihr rief, kam aus dem nahen Stall als Antwort nur das verzweifelte Brüllen der Kühe. Ich hörte gleich heraus, dass sie vor Hunger brüllten und weil sie noch nicht gemolken worden waren. Wenn Kühe nicht gemolken werden, brüllen sie ganz erbärmlich vor Schmerzen an den Eutern. Meine Kühe brüllten gleich doppelt, vor Hunger und vor Schmerz, und es war furchterregend, das anhören zu müssen. Ich steckte den Schlüssel in das neue Schloss, das mein Bruder Bastianin kurz zuvor in der Schmiede von Mano del Conte angefertigt hatte, aber er ließ sich nicht umdrehen. Auch als ich gegen die Tür drückte, öffnete sie sich nicht. Erst durch kräftiges Dagegenstoßen bewegte sie sich gerade mal zwei Fingerbreit. Während ich mich mit der Schulter gegen die Tür stemmte, fiel mein Blick auf den Boden, und ich sah, wie scharenweise Ameisen unter der Tür raus und rein krabbelten. Eine drei Finger breite wahre Ameisenprozession. Wie hysterisch rannten sie rein und raus. Mit ganzer Kraft drückte ich schließlich die Tür so weit auf, dass ich mich schräg hindurchquetschen konnte.
    Drinnen schlug mir ein übler Geruch entgegen, und mein Fuß stieß gegen etwas. Da sah ich sie auf dem Boden, zusammengekrümmt wie ein Bogen lag die alte Tante da. Ich zog sie an den Beinen etwas zur Seite und öffnete weit die Tür, damit mehr Licht hereinkam. Und was ich dann sah, drehte mir den Magen um. Eine große Pfütze roter Flüssigkeit, die ich zuerst für Blut hielt, aber bei genauerem Hinsehen war es Wein. Die Alte hatte mit dem Wein gleich ihr Leben ausgekotzt. Oder besser, sie hatte ihren Tod herbeigekotzt, denn schließlich hatte der Wein sie ja umgebracht. Durch ihren offenen Mund liefen haufenweise die Ameisen aufgeregt rein und raus, selbst ganz berauscht vom Wein, den sie passieren mussten. Arme Tante, endlich war sie in die andere Welt hinübergewechselt, wo sie immer schon hin wollte.
    Wir beerdigten sie auf dem Friedhof, aber nicht neben meiner Mutter und meinem Vater, denn in der Zwischenzeit waren andere gestorben,
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