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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont
Autoren: Mauro Corona
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gesehen worden war und ihre Kühe schon vor Hunger brüllten. Deshalb haben sie die Stalltür aufgebrochen, und da hing sie, violett im Gesicht, mit einem Heustrick um den Hals, schnurgerade wie ein Baum, an den Ästen aufgehängt mit den Wurzeln nach unten. Es tut mir so leid um meine Meisterin! Und ich glaube, es war alles wegen des Kindes, das sie in sich trug und nie austragen konnte, weil die Alte es im Voraus mit der Stricknadel durchbohrt hatte.
    Bevor sie sich aufhängte, so erzählte man sich, hatte sie noch mit Bleistift folgende Worte auf den Boden eines Milchbottichs geschrieben: »Wer tötet, muss sich selber töten.«
    Meine Tante interessierte sich sehr für diese Geschichte mit dem Bottich und ließ ihn sich zur Erinnerung aushändigen, trug ihn nach Hause und stellte ihn links auf den Ecksekretär. Und dorthin, vor den Bottich, legte sie dann auch noch die Eheringe von unserer Mutter und unserem Vater. Hin und wieder schaute ich nach und las jene erschütternden Worte, die sie geschrieben hatte, dass nämlich jemand, der einen anderen tötet, sich schließlich selbst umbringen muss. Aber auch die Ringe meiner Eltern betrachtete ich, und jedes Mal schnürte es mir dabei die Kehle zu.
    Das Begräbnis fand ohne Don Planco statt, denn Selbstmörder hatten kein Recht auf einen Priester. Sie wurde in einem Winkel im oberen Teil des Friedhofs beigesetzt, der für die verdammten Seelen vorgesehen war. Zwei Monate später starb dann auch ihr Vater, so vereinsamt hatte es ihm das Herz gebrochen. Seine Frau war bereits gestorben, noch bevor diese schrecklichen Dinge geschahen.

Von meinem einundzwanzigsten bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr arbeitete ich bei verschiedenen Leuten als Waldarbeiter, die mir wohlgesinnt waren und mich in die Geheimnisse der Waldarbeit einführten. Einer von ihnen war Santo Corona, genannt Santo della Val Martin, er wurde von einer Buche erschlagen, die ihn in die Schlucht des Val da Diach mitriss. Der alte Santo machte seine Arbeit sehr gut und war auch mir ein guter Lehrmeister. In der ersten Zeit half ich noch der trunksüchtigen Tante, die Kühe unserer Mutter zu versorgen, aber nach vier Jahren ging ich dann zu Santo und lernte bei ihm, wie man schnell und unter möglichst geringer Anstrengung mit Holz umgeht. Zuerst sagte er mir Nein, er bräuchte niemanden und hätte schon genug Mühe, sich selbst zu versorgen. Aber schließlich tat ich ihm leid, und er stellte mich fürs Erste zur Probe ein, doch dann stand er mir so zur Seite, als wäre ich sein eigener Sohn gewesen. Er wolle mich zunächst einmal für eine Saison behalten, sagte er, aber am Ende wurden es neun, bevor er nach Frankreich und Österreich ging, um dort als Waldarbeiter zu arbeiten.
    Um jedem zu zeigen, wie gut er war, rasierte er sich hin und wieder die Haare an seinen Waden mit einem Axthieb ab. Dazu zog er sich die Hosenbeine hoch, nahm die Axt am Griffende auf und ließ sie mit Schwung auf das Bein niederfahren, aber statt dieses entzweizuhauen, rasierte er mit der Axtschneide nur einen Teil der Haare ab.
    Darauf ließ er die Haare wieder nachwachsen und wiederholte dann sein Kunststück. Nie ist Santo della Val je ein Axthieb misslungen, und auch mir brachte er dieses sehr gefährliche Spiel bei. Nach und nach zeigte er mir ganz genau den Trick, wie man den Hieb nicht verfehlt, denn beim kleinsten Ausrutscher ist das Bein dahin: Es kommt darauf an, den genauen Bewegungsablauf vor Augen zu haben, der dann immer exakt derselbe sein muss, so als wäre der Arm auf einem Drehzapfen montiert, der ihn immer nur diese eine Bewegung ausführen ließ. Vor und zurück, ohne die geringste seitliche Verdrehung, immer ganz gerade, wie die Treibstangen der Räder einer Lokomotive. Ich war ein guter Schüler, und am Ende misslang auch mir kein einziger Hieb.
    Kurz bevor er nach Österreich aufbrach, wollte ich noch einmal den starken Mann spielen und forderte ihn vor einigen Leuten vor der Weißen Amsel von Pilin heraus, wer von uns beiden wohl die meisten Wadenhaare absäbeln würde. Mehr Haare als der andere abzuschneiden hieß, noch näher an der Haut entlang zu schlagen. Santo lachte nur und nahm die Herausforderung an.
    Santo war ein guter Mensch, ich war noch jung, und er mochte mich gern, und gerade deswegen wollte er mir auch eine Lektion in Bescheidenheit erteilen. Es war ein Jammer, dass so einer wie er später dann aus eigenem Verschulden von einer Buche erschlagen wurde. Er war sich zu sicher gewesen,
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