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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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überstiegen die Grenze des Erträglichen. Die Tochter war ein Geschenk, sie durfte ihm nicht entrissen werden. Wenigstens ein einziges Mal musste er in ihre Augen blicken, sie durfte nicht sterben, ohne zu wissen, dass es ihn gab!
    Am Nachmittag des zweiten Tages besuchte er das Sternenmädchen in einem mit sechs Betten vollgestellten Krankensaal. Tara konnte sich wegen ihres zerschmetterten Schulterblatts kaum bewegen, doch sie lächelte. Ihre erste Frage galt Anna, und sie weinte, als er ihr sagte, die Ärzte wüssten noch immer nicht, ob sie überleben werde. Als sie sich gefangen hatte, begann sie zu erzählen, von ihrem Vater, von Achim und von der Befreiung Sapanas. Als sie jedoch vom Schneeleoparden wissen wollte, welches Geheimnis ihren Vater umgab, blieb er stumm. Er wusste, dass er ihr alles erklären musste, aber noch fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Die Ankunft von Achal und Taras Schwester rettete ihn zumindest fürs Erste aus seiner Erklärungsnot. Der Pangje nickte ihnen zu und verabschiedete sich von Tara mit dem Versprechen, sie nicht allein zu lassen. Leise verließ er das Zimmer und nahm seine ruhelose Wanderung durch die Gänge wieder auf. Irgendwann in der zweiten Nacht übermannte ihn die Erschöpfung, und er schlief auf dem Fußboden ein, eingerollt in seinen hundertfach geflickten Mantel, den Jampa ihm vor mehr als drei Jahrzehnten geschenkt hatte.
    Eine Berührung am Arm schreckte ihn auf. Als er den für Anna zuständigen Arzt mit ernster Miene neben sich kauern sah, wusste er sofort, dass sie es nicht geschafft hatte. Alles begann sich zu drehen, und er sackte nach hinten. Der Arzt packte ihn unter den Achseln und richtete ihn wieder auf, zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. Der Mund des Arztes bewegte sich, doch nur allmählich drangen die Worte in den Kopf des Pangje, und noch länger dauerte es, bis er ihren Sinn verstand.
    »Fassen Sie sich, Herr Meunier«, sagte der Arzt. »Sie können jetzt zu ihr. Sie ist über den Berg.«
    Er saß die restliche Nacht und auch den Vormittag an ihrem Bett. Keine Sekunde konnte er seine schlafende Tochter aus den Augen lassen, zählte angstvoll ihre Atemzüge und maß ihren Puls, mochte sich nicht auf die piepsenden Geräte in ihrem Zimmer verlassen. Wie zart sie war, und wie ähnlich sie Bärbel sah! Er liebkoste ihr blasses Gesicht mit den Augen, suchte nach Spuren von sich, aber er hatte vergessen, wie er aussah. Es musste Jahre her sein, seit er das letzte Mal in einen Spiegel geblickt hatte.
    Sie öffnete die Augen.
    Die Welt stand still.
    Mit angehaltenem Atem beobachtet der Pangje, wie seine Tochter ins Leben zurückfand. Wie sie das Zimmer musterte und die dunkelbraunen Hirtenstare mit ihren gelben Brillen, die vorm Fenster auf den kahlen Ästen eines Baums herumhüpften, wie sie ihre Arme und Beine bewegte und schließlich begriff. Sie entdeckte ihn. Ein verwunderter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Sie versuchte ihn einzuordnen, aber es gelang ihr nicht.
    »Bonjour, Anna«, sagte er leise.
    Ihre Lippen formten mühsam eine Frage: »Wer sind Sie?«
    Dem Pangje versagte die Stimme. Endlich sah er ihre Augen, jenes Tabakbraun, das nichts seins war, und auch nicht Bärbels. Es waren die warmen Augen seiner Mutter, die Augen, die auch Mauro geerbt hatte. Er schluckte hart, dann nestelte er den Silberanhänger mit dem eingelegten Buchstaben ›B‹ unter seinem Mantel hervor. Mit zitternden Fingern reichte er ihn ihr, noch immer unfähig zu sprechen. Sie nahm den Anhänger, und langsam, unerträglich langsam wich ihre Verwirrung ungläubigem Verständnis.
    »Bist du – mein Vater?«
     
    Waren sie am ersten Tag nach Annas Erwachen noch sprachlos und scheu, so brachen am zweiten die Dämme, und sie erzählten, atemlos, ohne Unterlass, als wollten sie die Zeit aufholen, die das Schicksal ihnen gestohlen hatte. Vater und Tochter versuchten zu verstehen, was mit ihnen geschah.
    Er sieht so fremd aus, dachte Anna, wenn sie ihn ein ums andere Mal musterte, und doch verbirgt sich unter seiner vordergründig tibetischen Erscheinung eine flüchtige Ähnlichkeit mit meinem Spiegelbild. Mit seiner chinesisch anmutenden Wickeljacke, seinem Türkisen- und Korallenschmuck, den ausgeleierten Ohrläppchen, an denen schwere Silberringe baumelten, den zu einem langen Zopf geflochtenen Haaren und den tiefen Falten mochte er andere täuschen, sie nicht. Zu schmal war er im Vergleich zu den Einheimischen, zu zart seine Nase, zu länglich sein
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