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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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Gesicht.
    Irgendwann griff Anna zaghaft nach der schwieligen Hand des Mannes. Nach der Hand ihres Vaters. Er erwiderte den Druck, und sie weinte. Weinte um sich, um ihn, um sein trauriges Schicksal, um die Zeit ohne ihn. Weinte vor Erleichterung, ihn hier, lebend, neben ihrem Krankenhausbett sitzen zu sehen. Weinte vor Glück, selbst am Leben zu sein.
    »Du hast mir dein ganzes Leben erzählt«, sagte sie, als die Tränen versiegt waren. »Aber es gibt immer noch vieles, was ich nicht verstehe.« Anna brach ab. Sie dachte an Tara, deren Schicksal so eng mit dem ihren verwoben war. Von ihrem Vater hatte sie erfahren, dass Tara die Tochter Moons war, jenes linkischen Nepalesen, von dem schon Ingrid ihr berichtet hatte. Mutig bis zur Selbstaufgabe hatte Tara ihr Leben für Anna riskiert. Anna konnte nur hoffen, dass sie sich Taras würdig erweisen würde, sollte sie jemals in eine ähnliche Situation geraten. Anna hatte den Pangje, Sylvain, ihren Vater – noch wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte –, gefragt, wie sie ihre Schuld jemals begleichen konnte, aber er hatte nur gelacht. So seien die Menschen hier, hatte er gesagt. Sie solle sich bloß nicht zu viele Gedanken machen, und außerdem sei es Tara nicht ausschließlich um sie gegangen – Taras Wille, endlich den verhassten Achim zur Strecke zu bringen, sei mindestens ebenso stark wie ihre Überzeugung, das Schicksal hätte sie zu Annas Retterin bestimmt. Das Schicksal? In diesem Land mit seinen Myriaden von Göttern und Geistern schien Anna eine lenkende Kraft nicht abwegig. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Anna eine unerklärliche Verbundenheit mit der jungen Nepalesin gespürt. War alles vorherbestimmt gewesen? Vielleicht. Anna mochte es nicht mehr ausschließen.
    »Du wolltest mich etwas fragen?«, begann ihr Vater vorsichtig.
    Anna musterte das besorgte Gesicht des Mannes und empfand plötzlich warme Zärtlichkeit für ihn. Ihr Leben war so gründlich durchgerüttelt worden, dass dieser Fremde ihr nun am nächsten stand. Wie seltsam. Und wie schön. Sie streckte vorsichtig ihren Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen seine dunkle, runzelige Wange. Sie merkte, wie er sich kurz versteifte, doch dann legte er seine Hand auf ihre und drückte ihre Handfläche gegen sein Gesicht. Aus seinen eisgrünen Augen sprach dieselbe Liebe, dasselbe Erstaunen, das auch Anna spürte. »Ja«, sagte sie nach einer Weile, »ich kann immer noch nicht fassen, dass Achim alles nur gespielt haben soll. Wie kann man jemandem so überzeugend Freundschaft vorgaukeln? Auch ich bin ihm auf den Leim gegangen. Er wirkte so sensibel.«
    »Ich weiß nicht, ob er uns diese Freundschaften nur vorgespielt hat, denn er wollte ja auch von uns geliebt und akzeptiert werden. Mir ist das erst jetzt klargeworden, nachdem du mir von seiner Kindheit und Jugend erzählt hast. Diesen Teil seines Berichts glaube ich ihm aufs Wort, ebenso seine Gefühle für Babsi. Damals habe ich die Intensität seiner Eifersucht nicht begriffen. Vor dem Tag der Katastrophe hielt ich ihn für einen Draufgänger, aber nicht für einen schlechten Menschen.« Der Pangje verschränkte die Hände im Nacken und sah zur Decke. Sammelte sich, bevor er fortfuhr. »Ich muss zugeben, dass diese Gedanken auch für mich neu sind. Ich war davon ausgegangen, dass er den Treck von vornherein dazu nutzen wollte, mich loszuwerden, doch jetzt habe ich Zweifel. Hat Achim nicht vielmehr die Gelegenheit ergriffen, als sie sich ihm bot? Sicher ist, dass er erst nach dem vermeintlichen Mord an mir zu dem wurde, was er heute darstellt. Er hatte alle moralischen Schranken durchbrochen, und da es keinen Weg zurück gab, ist er einfach nach vorn geprescht, scherte sich um nichts und niemanden mehr – und wurde tatsächlich böse.«
    »Und du wurdest zum Schneeleoparden und hast Gutes getan.«
    Ihr Vater lachte bitter auf. »Anna«, sagte er, »Anna, täusch dich nicht in mir. Ich bin nicht gut.«
    »Aber du hast dich doch für die Tiere eingesetzt.«
    »Das habe ich tatsächlich, aber hast du meine Motivation bedacht? So wie Achim aus Eifersucht handelte, hat mich die Rachlust getrieben. Ja, mir lagen die Tiere am Herzen, aber in erster Linie wollte ich Achim schaden. Ihn nicht davonkommen lassen. Und vergiss nicht, durch mich sind mindestens drei Menschen zu Tode gekommen, und viele wurden verletzt.«
    »Achims Handlanger. Wilderer.«
    »Sie sind trotzdem Menschen. Mit dieser Schuld muss ich leben. Ebenso damit, dass ich
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