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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Autoren: Charlotte Link
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meine Schmerzen und meine wachsende Kraftlosigkeit zu ignorieren suchte, hielt ich mich an meiner Mutter fest. Ich hatte mich immer bemüht, nicht an sie zu denken, fünfzehn Jahre lang, weil es unweigerlich wütende und böse Gedanken wurden, wenn ich es doch tat. Mir fielen zu viele Kränkungen ein, die sie mir zugefügt hatte, und zu viele Momente, in denen sie mich zurückgewiesen und meinen Bedürfnissen nicht das geringste Verständnis entgegengebracht hatte. Ich hatte ihr die Karten geschrieben und damit mein Gewissen beruhigt und ansonsten jeden weiteren Gedanken an sie sofort verscheucht.
    An dieser verdammten Steilwand klebend, verletzt, entkräftet und von geringer Hoffnung, jemals oben anzukommen, wusste ich jedoch instinktiv, dass ich mich gedanklich mit irgendetwas beschäftigen musste, weil ich abstürzen würde, wenn ich mich zu sehr auf die Realität einließ. Die Realität war, dass ich keinerlei Erfahrung im Klettern hatte, dass dies meine erste Klippenbesteigung war, dass unter mir das Meer wütend gegen die Küste donnerte, dass Windböen an mir zerrten. Wenn ich es diesen Tatsachen erlaubte, Kontrolle über mein Denken zu erlangen, würde ich den Halt verlieren. Dass ich auf der Suche nach einer Ausweichthematik ausgerechnet bei meiner Mutter gelandet war, konnte kein Zufall sein: Man mochte gegen sie sagen, was man wollte, aber sie war meine Mutter. Auf ihre Art hatte sie für mich gesorgt, hatte mich großgezogen, hatte hart gearbeitet, um uns beide zu ernähren und mir wenigstens gelegentlich einen Wunsch erfüllen zu können – neue Buntstifte oder ein Buch, später dann eine angesagte Jeans oder ein Paar Schuhe, das mich begeisterte. Sie hatte die Wirkung solcher Geschenke immer dadurch verdorben, dass sie mir zwar die Geldscheine über den Tisch schob, gleichzeitig aber meine Gier und meine Genusssucht in harten Worten angriff. Trotzdem, irgendwie war es ihr wichtig gewesen, dass ich nicht zu sehr hinter den anderen Kindern oder Teenagern zurückstand. Vielleicht, um unsere Armut nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Vielleicht hatte es aber auch irgendwo in ihrem Herzen einen Winkel gegeben, der sich freute, meine Augen aufleuchten zu sehen.
    Vielleicht.
    Auf jeden Fall suchte ich in dieser extremen Situation Hilfe bei ihr, und sei es nur, indem ich sie und mich und unsere Beziehung analysierte und Pläne für unser Wiedersehen schmiedete. Ich schien trotz allem Vertrauen in sie zu haben. Das Vertrauen, dass mich die Gedanken an sie nach oben bringen würden.
    Gelegentlich trat ich kleine Steine los, die dann hinunterrollten. Jedes Mal brach mir der Schweiß sofort am ganzen Körper aus, ich hielt inne und presste mich, so eng ich konnte, gegen den Fels. Auch die Innenflächen meiner Hände wurden nass, und ich musste warten, bis sie halbwegs trocken waren, ehe ich nach dem nächsten Halt tastete, um den ich meine Finger schließen konnte. Tatsächlich gab es immer etwas, einen Vorsprung, eine Felsnase, einen schmalen Absatz, auf dem meine Füße Platz fanden.
    Schließlich kam ich in einer Mulde zu stehen, die sich ziemlich breit und tief in der Wand gebildet hatte und sogar mit Moos ausgekleidet war, und ich fühlte mich sicher genug, einen Blick hinunterzuwerfen, um zu sehen, wie weit ich schon gekommen war. Mir wurde sofort dermaßen schwindelig, dass ich mein verbliebenes funktionstüchtiges Auge schließen und einen Anfall wildesten Herzrasens über mich ergehen lassen musste. Aber ich hatte herausgefunden, dass ich tatsächlich eine große Strecke zurückgelegt hatte. An diesem Punkt würde mich die Flut längst nicht mehr erreichen, allerdings konnte ich dennoch nicht hier stehen bleiben. Mein Hauptproblem war, dass meine körperlichen Kräfte rasant abnahmen. Ich war dehydriert und durch die Verletzung, die Ken mir zugefügt hatte, zusätzlich geschwächt. Ich hatte kurz überlegt, hier in dieser Mulde zu verharren, bis die Ebbe kam, mich dann wieder langsam nach unten zu arbeiten und zu versuchen, über die Treppe den gesamten Anstieg zu bewältigen. Aber es würde viele Stunden dauern, bis der Strand unten wieder begehbar wäre, und ich fürchtete, dass ich diese Zeit nicht überstehen würde.
    Ich wagte einen Blick nach oben. Es waren nur noch ein paar Meter, die mich vom Rand der Klippen trennten, jedoch würde dieses letzte Stück am schwierigsten werden. Die Felswand wölbte sich nach innen, ehe sie sich schwungvoll wieder nach außen schob und zum Klippenrand wurde.
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