Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
Vom Netzwerk:
Luzernen gepflanzt, so dass es nun keinen Hinweis auf das gab, was darunter verborgen war.
    Und dennoch sah ich an jenem Tag meine Großmutter, oder besser gesagt ihr Spiegelbild, in den Scheiben des Gewächshauses. Maud war noch nicht einmal vierzig, aber ich erkannte sie sofort: die lange Nase, der volle Mund, der erwartungsvolle Ausdruck. Einen Augenblick lang wollte ich ihr über die Jahrzehnte hinweg etwas zurufen. Auf ihrem letzten Foto, als sie mit der Handtasche die Straße hinabspaziert war, hatte sie ihre Vergangenheit wie einen viel zu schweren Sack auf den Schultern getragen. Ihre Oberschenkelknochen hatten in ihren Gelenkpfannen wie schmerzende Trommelschlegel gesteckt: Es tut weh, es tut weh . Aber das war nicht die Musik, die ihr Körper an diesem Tag spielte. Ein Pfeifen im Wind untermalte ihren federnden Gang, sie trug den Tag wie eine Tiara. Sie war wunderschön.

    »Wirst du über diesen Ort schreiben?«, fragte meine Mutter, als wir die Auffahrt entlangfuhren. »Darüber, was hier geschehen ist?«
    »Damit habe ich bereits begonnen.«
    »Gut. Vermutlich hätte meine Mutter das gewollt. Immerhin hat sie dich am Abend deiner Ankunft zu der Handtasche geführt, nicht wahr? Sie wollte, dass du die Wahrheit herausfindest und die Geschichte erzählst.«

    Ich nickte. Zumindest meine Mutter hatte das Bedürfnis, sie erzählen zu müssen.
    Sie nahm meine Hand. »Aber du wirst sie nicht sofort jemandem zeigen, ja?«
    »Nein, hoffentlich erst viel später.«
    Als wir in die Blood Road einbogen, blickte meine Mutter aus dem Fenster auf die Felder, die sie erst gemeinsam mit ihrem Vater und dann mit ihrem Ehemann bestellt hatte. »Seltsam, wie es sich schon jetzt nicht mehr nach meinem Zuhause anfühlt«, sagte sie, »als gehörte die Farm seit Langem jemand anderem. Ich fühle mich mit den Erinnerungen an diesen Ort nicht mehr verbunden , wenn du verstehst, was ich meine. Ich wundere mich jetzt, warum ich all die vielen Jahre hier leben wollte.«
    »Ich verstehe dich«, erwiderte ich. Mir erging es ähnlich mit Ezra. Mühsam versuchte ich mich an seinen Geruch zu erinnern, die Beschaffenheit seiner Haut, die Art, wie er sich bewegte, den Grund, weshalb ich mich in ihn verliebt hatte. Unsere Leben hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Er bestellte nun das Land, das er ohne mich gekauft hatte, und lebte dort mit einer anderen Frau, einer zierlichen Farmerstochter, die sich in dem winzigen Haus wohler zu fühlen schien als ich. Ich war mit meinem Sohn zurück in meine Heimat gezogen, um meiner Schwester zu helfen, meine Mutter in ihren letzten Jahren zu pflegen. Obwohl ich mich an die wichtigen Ereignisse im Leben mit Ezra bildlich erinnern konnte, oder wenigstens an einen Großteil davon, durchströmten mich nicht mehr dieselben Gefühle wie damals. Meine Mutter hatte das an jenem Nachmittag treffend formuliert: Ich fühlte mich mit diesen Erinnerungen nicht mehr verbunden . Und dennoch, wenn Erinnerungsfetzen an Ezra in mir hochstiegen, schwelgte ich in ihnen und hoffte, einen
Teil meiner Gefühle für ihn einzufangen und zu erfahren, wer genau ich zu der Zeit gewesen war. Es war im Sommer irgendwann nach Ezras Schlaganfall, als er und ich bei einem unserer Besuche mit meiner Mutter und meinem Vater genau diese Straße hinabfuhren. Jeremy war damals erst zwei und rief: »Schmetterling!« Zitronenfalter tanzten über die gelben Luzernenblüten entlang der Straße, wobei einer unsere Windschutzscheibe streifte.
    »Schaut mal, all die Schmetterlinge am Streifenseiten«, sagte Ezra und zeigte auf die Zitronenfalter, die gegen Autos geflattert und vom Wind zu kleinen Haufen an den Straßenrand geweht worden waren.
    »Kann ich sehen?«, fragte Jeremy.
    »Warum halten wir nicht an?«, schlug Ezra vor, parkte den Pick-up am Seitenstreifen und half Jeremy aus dem Wagen, damit er die Schmetterlinge betrachten konnte, die den Boden wie gelbes Konfetti bedeckten. Die meisten waren tot, aber einige waren nur verletzt und noch am Leben. Matt schlugen sie mit den Flügeln. Jeremy las die Schmetterlinge vom Schotter auf, und die leuchtenden Schuppen ihrer Flügel bestäubten seine Fingerspitzen wie Lidschatten.
    »Kann ich welche mitnehmen?«, fragte er mich.
    »Haben wir irgendeinen Behälter dabei?«
    »Meinen Hut«, sagte Ezra.
    Während ich zusammen mit Jeremy Schmetterlinge aufsammelte, kam Ezra auf uns zu und schien etwas Kostbares, einen Gegenstand von unschätzbarem Wert, in der hohlen Hand zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher