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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald
Autoren: Matt Haig
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serviert hatten, war Zitternase gewesen. Samuel wurde übel, und er fragte sich, ob er gerade zum Kannibalen geworden war.
    Grauschwanz richtete seine Nase auf die glückliche Hasenschar. »Schau sie dir an. Sieh nur, was für eine friedliche und zufriedene Gemeinschaft wir sind. Von Angst und Anarchie ist nichts mehr geblieben, weil alle voller Hoffnung sind. Der Schatten, der das Gemüt jedes Hasen verdunkelte, der in unser Gehege kam, ist hellem Licht gewichen. Und du wirst das jetzt nicht durch deine Schauergeschichten zerstören, hast du mich verstanden?«
    »Das sind keine Schauergeschichten«, sagte Samuel, »sondern die Wahrheit. Und ich muss hier raus und meine Schwester finden.« Samuel versuchte es mit einem letzten Appell: »Wenn wir nicht zusammenarbeiten, werden wir alle sterben.«
    »Kein Hase lebt ewig«, erwiderte Grauschwanz. »Frag meine müden Knochen. Die Frage ist nur, ob wir in der Zwischenzeit ein glückliches oder ein unglückliches Leben führen.«
    Grauschwanz erwartete keine Entgegnung. Er drehte sich um und ging gemächlich zu den anderen Hasen hinüber.
    Samuel wusste, dass er ganz auf sich allein gestellt war. Ohne Grauschwanz’ Unterstützung würden ihm die anderen Hasen keinen Glauben schenken.
    Er blickte zur aufgehenden Sonne empor und sah den Vogel allein im hellen Licht auf dem Zaun sitzen. Samuel trat
näher an das Drahtgeflecht heran, während sich auf dem Boden ein schattiges Gitter abzeichnete. Und dann, als er der Freiheit so nahe gekommen war wie nur irgend möglich, fing er an zu graben.

Das Graben des Tunnels
    E r ist verrückt!«
    »Was für eine merkwürdige Art zu graben!«
    »Warum will er denn fliehen?«
    »Was in Thubulas Namen macht er da eigentlich?«
    Samuel versuchte, die anderen Hasen zu ignorieren, während er den Tunnel grub. Sie saßen um ihn herum, lachten und machten komische Bemerkungen, als sei dies ein lustiges Schauspiel. Der einzige Hase, der nicht über Samuel lachte, war Grauschwanz, der den ganzen Tag kein einziges Wort sprach.
    Je weiter sich Samuel vorarbeitete, desto entfernter hörte er die Stimmen der anderen. Seine Vorderläufe schmerzten, doch er ließ sich nicht beirren, fest entschlossen, den Tunnel so weit wie möglich voranzubringen, bevor die Nacht hereinbrach. Er buddelte und buddelte und buddelte, während ihm kleine Erdklumpen auf sein Fell und ins Gesicht spritzten.
    »Hallo!«, rief er über die Schulter. »Könnte mir nicht irgendjemand helfen?«
    Doch niemand bot sich an.
    Er sehnte sich nach seinen menschlichen Armen und Beinen, die problemlos über den Zaun hätten hinwegsteigen können, doch er musste eben damit vorliebnehmen, was ihm zur Verfügung stand. Und das war Entschlossenheit. Wie viel
Erde ihm auch in die Augen spritzte und wie sehr er sich vor dem undurchdringlichen Dunkel des Tunnels auch fürchten mochte - seine Pfoten gruben unablässig weiter.
    In seinem Kopf hatte nur ein einziger Gedanke Platz: Ich muss fliehen!
    In der Dunkelheit hörte er andere Stimmen.
    Regenwürmer, Käfer, winzige Insekten.
    »Hey, jetzt hast du mich in zwei Hälften geteilt!«
    Samuel blickte nach unten, wo die Stimme hergekommen war, und konnte mit Mühe die Hälfte eines glänzenden Regenwurms erkennen.
    »Tut mir leid«, sagte Samuel, »ich wollte dir nicht wehtun.«
    »Was für eine Woche«, brummte der Regenwurm und versuchte, seinen halben Körper tiefer in die Erde zu winden.
    Samuel buddelte weiter, während er seine langen Ohren gegen die Decke des Tunnels presste. Auf einmal flog der blau gefiederte Vogel zu ihm hinein, setzte sich neben ihn und schaute ihn an.
    »Hau ab!«, sagte Samuel.
    Der Vogel sagte nichts, sondern starrte regungslos ins Dunkel.
    »Hau ab, du nimmst mir das Licht.«
    Der Vogel tat, wie ihm gesagt wurde, und Samuel machte sich wieder an die Arbeit. Ihm war schwindelig vor Hunger. Seine Augen brannten, und sein kleines Herz hämmerte so stark, dass sein ganzer Schädel pochte. Und als wäre das noch nicht genug, juckte ihn sein verschwitztes Fell.
    Schließlich musste er eine Pause einlegen. Der Schmerz in seinen Pfoten und Beinen war einfach zu stark.
    Nur fünf Minuten , sagte er sich, obwohl er nicht wusste, wie er als Hase die Zeit kontrollieren sollte.

    Da hörte er hinter sich ein Geräusch.
    Er drehte den Kopf und sah, wie ein dichter Schauer von Erdklumpen niederging.
    Oh, nein, das darf nicht passieren.
    Er versuchte, sich vollständig umzudrehen, doch der Tunnel war zu eng. Als er sich mit
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