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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml
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sonst noch los ist, verheißt seine Anfrage nichts Gutes. Ich werde ihn nicht lange hinhalten können. Du verstehst.«
    Er meint, dass ich auf mich selbst gestellt bin, dass er keinen Einfluss auf Lachek hat. Der General ist seit Anfang der Neunziger eine Art Vaterfigur für mich, als er mich aus dem Untersuchungsgefängnis geholt hat, einem bestialischen Ort, wo Männer sich um Fleischreste und einen Schlafplatz prügeln. Ich war sechzehn und habe es nur knapp überlebt. Er hat meine Ausbildung organisiert, seitdem meinen Werdegang gelenkt und mich dabei oft in Gefahr gebracht, aber ich werde immer in seiner Schuld stehen. Der Gedanke, dass er mir nicht helfen kann, stört mich wenig. Ich bin es gewohnt. Was mich viel mehr beunruhigt, ist die Tatsache, dass dieser neueste Anschlag, bei dem es etliche Tote gab und ein wichtiges Gebäude zerstört wurde, nur ein Teil von dem ist, was ihm Sorgen bereitet.
    »Was ist sonst noch los?«
    Der General ignoriert meine Frage; er nimmt zwei zusammengeheftete Seiten von einem Stapel vor sich und schiebt sie mir über den Tisch zu. »Lachek ist Mitte fünfzig. Er hat in Afghanistan gekämpft, in der Luftwaffe. Bis vor ein paar Jahren war er in Singapur stationiert. Schmutzarbeit in ganz Südostasien, Abfangen von Drogentransporten, Terrorismusbekämpfung... Alles geheim und so verdeckt, dass nicht mal ich in die Details eingeweiht bin. Seit 2003 ist er Putins Mann hier in Russland. Oder sagen wir, einer seiner Männer.«
    Ich stopfe die Papiere in meine Manteltasche, ich werde sie später lesen. Bei jeder Bewegung reiben die Brandblasen gegen den Stoff. »Ich brauche Namen und Hintergrundinformationen über die Geiseln.«
    »Warum?«
    »Ich verstehe nicht, warum sie in Sicherheit gebracht wurden.«
    Sein eisiger Blick hält meinem mehrere Sekunden lang stand. Dann kritzelt er eine Notiz auf einen Block, der vor ihm auf dem Tisch liegt. »Gib mir ein paar Stunden.«
    »In der Kommandozentrale war eine Frau, die behauptete, eine von den Terroristen freigelassene Geisel zu sein.« Ich versuche, mir ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen, aber alles, was ich sehe, ist ein marineblauer Anzug voller Ruß und blond gesträhntes Haar, das über die Hände vor ihrem Gesicht fällt. »Sie hat fal-sche Angaben darüber gemacht, wie viele von ihnen im Gebäude waren, und sie verschwand vor der zweiten Explosion. Ich nehme an, dass sie ihnen außerdem einen Tipp gegeben hat, wo sie auf mich warten sollen. Einem Polizeiinspektor vor Ort zufolge soll sie Amerikanerin sein.«
    Tiefe Furchen auf beiden Seiten seines Mundes ziehen sich zusammen, er senkt den Kopf und starrt auf den Tisch, die Augen hinter den vorstehenden Brauen versteckt. Jetzt bin ich es, der ihn mustert.
    Der General kommandierte die berüchtigte Achtundfünfzigste Armee, die verantwortlich für die Invasion und brutale Besetzung Tschetscheniens während des zweiten Krieges war. Während meiner gemeinsamen Zeit mit ihm habe ich weder Reue noch Selbstzweifel an ihm entdecken können. Einmal sah ich ihn an furchtbaren Schmerzen leiden, aber selbst da zeigte sich kein Anzeichen einer tieferen Emotion auf seinem maskenartig ledernen Gesicht. Mittlerweile ist er stellvertretender Kabinettsminister und offiziell dem Verteidigungsminister unterstellt, aber in Wirklichkeit wird seine Abhängigkeit einzig und allein davon bestimmt, ob er über die Ressourcen verfügt, die Macht an sich zu reißen und zu behaupten. Seine Untergrundorganisation mischt in militärischen Angelegenheiten, Politik, Wirtschaft und Kriminalität mit – oder, genauer gesagt, in dem undurchdringlichen Amalgam, das im neuen Russland dafür steht.
    Was alles umso erstaunlicher ist, als der General ein Zwerg ist. Von seinem übergroßen Kopf bis zu den Zehen misst er nicht einmal anderthalb Meter. Wie er in einer Kultur, die körperliche Schwäche verachtet, einen solch gigantischen Ehrgeiz entwickeln konnte, der ihn schließlich an die Macht gebracht hat, ist mir unverständlich.
    Er trommelt mit den Knöcheln seiner linken Hand auf den Tisch, offenbar denkt er noch über die Frau in der Kommandozentrale nach. »Terroristische Rekruten kommen heutzutage von überall her. Wer weiß, vielleicht hat sie einen amerikanischen Akzent angenommen. Vielleicht war es auch gar kein Hinterhalt, und sie hatten einfach einen Mann dort postiert.«
    Ich versuche, mich an den Ablauf der Ereignisse auf dem Träger zu erinnern. Verqualmte Dunkelheit, durch die ein laserähnlicher
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