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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml
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wahrscheinlich nicht bewacht.«
    Das Schloss interessiert mich nicht. Aber er unterschätzt die Schwierigkeit, dort hinzukommen. Der Weg bis zur Tür ist ein Spießrutenlauf durch das Schussfeld der Terroristen. Die Dunkelheit könnte etwas Schutz bieten, aber nicht, wenn sie Nachtsichtgeräte haben, was wahrscheinlich ist. Die amerikanische Armee verteilt sie im Irak, so wie sie in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg Kaugummi verteilt haben. Nur dass die Dinger im Irak an Leute verkauft werden, die damit amerikanische Soldaten töten – freies Unternehmertum, wie es die irakischen Aufständischen praktizieren.
    Ich blättere weiter zu den Bauplänen. Das Hauptgebäude ist zwölf Stockwerke hoch. Sechs weitere Stockwerke hoch ist ein schmalerer Aufsatz, der wie eine dicke Kerze mitten aus einem Kuchen ragt. Die Decke im sechsten Stock ist abgesenkt, darüber verlaufen Leitungen und Rohre auf weniger als einem Meter Höhe. Ich gehe die Pläne noch einmal durch, bis ich den richtigen gefunden habe, betrachte ihn eine Weile und versuche, mir die Zeichnung ins Gedächtnis einzubrennen.
    Barokov räuspert sich und tritt einen Schritt zurück. Die ehemalige Geisel weint immer noch leise. Am Hubschrauber erwartet eine fünfköpfige kampferprobte Kommandotruppe meine Befehle, und dem Geschnatter in meinem Funkgerät, hauptsächlich konfuses Geschrei, entnehme ich, dass eine gesonderte Vympel-Antiterroreinheit in Kürze dazustoßen wird. Aber in meinem Kopf höre ich die Stimme des Generals, der mich weitertreibt. Zögere nicht. Greif an.
    Ich entferne mich von der Gruppe, funke meinen Einsatzleiter an und spreche leise mit vorgehaltener Hand in das Mikrofon. Gebe ihm Anweisung, das Gebäude zu umstellen und beim ersten Anzeichen eines Kampfes zu stürmen, wenn möglich die Geiseln zu retten und sich dann erst um mich zu kümmern. Dann lege ich das Funkgerät weg und ziehe alles aus bis auf die schwarze Fallschirmjägerhose und die Schutzkleidung über einem langärmligen kragenlosen Shirt aus körperbetonter Kunstfaser. Ich schiebe die Sig in ein Nylonhalfter. Rücke das Messer zurecht, das an meinem Rücken festgeschnallt ist. Werfe einen letzten Blick auf die Pläne, und dann bin ich zur Tür raus und warte kurz, bis sich meine Augen an die rosa glimmende Dunkelheit gewöhnt haben.
    »Wer zum Teufel war das?«, höre ich Inspektor Barokov hinter mir fragen.

2
    Größere Betonstücke und herumliegendes Baumaterial vermitteln die Illusion von Schutz, als ich mich dem AMERCO-Gebäude nähere. Ich meide die Lichtinseln, wo noch Feuer brennt. Kauern, kriechen, schlittern und rutschen – alles routinierte Bewegungen. Den Straßenkampf habe ich im Blut, seit ich im ausgebombten Grosny und in den umliegenden Dörfern drei Jahre lang so gut wie nichts anderes gemacht habe. Nach Grosny verbrachte ich die nächsten zwei Jahre fast ausschließlich in den eisigen Wäldern Inguschetiens und den schneebedeckten Bergen Dagestans. Bis zu meiner Kapitulation – und sechs langen Monaten in einer zindan, einer Schlammgrube, wo die Zeit anhand der Pausen, die zwischen den Folterungen lagen, gemessen wurde. Wenige Minuten später lehne ich mit dem Rücken an einer Backsteinmauer des qualmenden Gebäudes. Ich schwitze trotz der kühlen Luft, aber mein Atem geht ruhig. Keine Schüsse, keine Schreie. Nichts.
    Die Tür ist von innen verriegelt, das Schloss stabil. Fast zehn Minuten stochere ich mit kleinen Metallwerkzeugen im Licht der fackelnden Flammen darin herum, immer auf der Hut davor, entdeckt zu werden. Als es endlich nachgibt, klingt der Mechanismus wie ein widerhallender Gong. Ich warte eine weitere Minute, mein Atem dampft. Immer noch nichts außer heulenden Sirenen, knisterndem Feuer und in der Ferne durch ein Megafon verstärkte Instruktionen an die neugierige Menge. Ich schiebe mich durch die schwere Tür und ziehe sie leise hinter mir zu.
    Das Treppenhaus scheint so verlassen, wie Barokov vermutet hat. Noch eine Überraschung, zumal ich dachte, er hätte auch diese Gefahr unterschätzt. Geräusche von außerhalb sind nur gedämpft wahrnehmbar. Ein dumpfes Tosen dringt an mein Ohr, begleitet vom Prasseln der Flammen, das jetzt so laut wird, als befände ich mich in einem riesigen Ofen. Die Stufen sind aus Beton, besetzt mit Stahlleisten, an den Wänden ein rohrförmiger Handlauf, glitschig vom Kondensat.
    Langsam und leise steige ich die Treppe hinauf und halte auf jedem Absatz inne, während es um mich herum ächzt wie im Rumpf
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