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Im Schatten der Mitternachtssonne

Im Schatten der Mitternachtssonne

Titel: Im Schatten der Mitternachtssonne
Autoren: Catherine Coulter
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Der Junge wich nicht von der Stelle und blickte ihm standhaft ins Gesicht. Er würde dem Jungen Gehorsam beibringen, aber nicht jetzt.
    »Ich sehe mal nach deiner Tante, ob sie immer noch um ihr Leben wimmert.«

28
    Ingunn wußte, daß er kam. Im nächsten Augenblick würde er in der Tür der Hütte erscheinen, würde eine Weile ins Dunkel blinzeln, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und dann würde er sie sehen. Er würde grinsen, und sie würde nicht in der Lage sein, ihren Schmerz vor ihm zu verbergen. Es gab kein Entrinnen für sie, das wußte er, und das machte ihm Spaß.
    Er würde sie wieder schlagen und dabei lachen, seine Augen würden dumpf und kalt sein, und er würde solange auf sie einschlagen, bis kein Leben mehr in ihr war. Dann würde er sie auf dem Lehmboden liegen lassen und die Kinder töten.
    Ingunn schleppte sich zum grob gezimmerten Holzverschlag. Langsam, bei jeder Bewegung vor Schmerz ächzend, zog sie sich auf die Füße. Sie keuchte, kämpfte gegen das schwarze Schwindelgefühl an, das sie zu übermannen drohte. In der Hand hielt sie ein schweres Ackergerät, einen langen Holzstiel, an dessen Ende ein Eisenhaken befestigt war, womit man Steine aus dem Boden holte und harte Erde auflockerte. Sie wußte nicht, wie sie die schwere Hacke heben und damit zuschlagen sollte. Aber sie mußte es tun. Sie wollte nicht sterben.
    Orm entfernte sich vom Langhaus, schlenderte den schmalen, zerfurchten Pfad entlang, der an einigen Hütten vorbeiführte, die das Haupthaus umgaben. Der Lehmboden war vom Regen am frühen Morgen aufgeweicht. Die Feuchtigkeit verstärkte den Gestank nach verwesendem Heisch und Fäkalien. Voller Ekel beäugte er die Abfallhaufen. Verfluchte Sachsenschweine! Er mußte auch noch ihren Dreck wegschaffen.
    Die Nacht war schwarz und still, der Mond am Himmel nur eine schmale Sichel. Das Land lag flach, bevor es sanft zum Ufer des Flusses Thurlow abfiel. Wie fremd ihm dieses Land war, so anders als seine Heimat Norwegen mit dem nächtlichen Dämmerlicht, das geheimnisvolle Schatten über die Landschaft warf. Dieses Land war zu sanft, zu weich; aber er würde sich daran gewöhnen, wie seine Männer auch. Alle seine neuen Sklaven würden sich an ihn, ihren neuen Herrn und Meister gewöhnen. Gestern mußte er einen dieser aufsässigen Kerle auspeitschen, einen Sachsen, der vor ihm ausgespuckt hatte. Wahrscheinlich war er mittlerweile an seinen Wunden verendet.
    Orm lächelte. Bald war Magnus da. Er war für ihn bereit. Seine Männer lagen im Hinterhalt am Rand des Weges, der zum Gehöft führte. Sie würden ihm eine Botschaft zukommen lassen, wenn Magnus und seine Männer auftauchten. Orm pfiff leise vor sich hin, strich sich über die Oberarme, es war kühl geworden. Stirnrunzelnd blickte er auf seine Hände. Er hatte sich die Knöchel verstaucht, als er Ingunn immer wieder die Faust ins Gesicht schlug. Seine Finger schmerzten, wenn er die Faust ballte. Er hätte zu Ende bringen sollen, was er begonnen hatte. Jetzt wollte er es tun. Sie hatte ihn verraten. Er konnte sie nicht mehr gebrauchen.
    Er schob den Riegel der schmalen Holztür hoch, stieß den Verschlag auf, starrte ins Dunkel, um seine Augen daran zu gewöhnen. Er sah nichts, nur die Umrisse der Ackergeräte. Er hatte schnelle Reflexe; doch diesmal war er nicht schnell genug. Er hörte ihr Keuchen, hörte das Sausen in der Luft, und gerade als er sich umdrehte, spürte er den Schmerz, der wie ein Messer durch seinen Schädel fuhr. Dann spürte er nichts mehr.
    Ingunn beobachtete, wie er zu Boden ging. Er war nur ohne Bewußtsein, nicht tot, Fluch den Göttern! Sie hob die schwere Hacke, um erneut zuzuschlagen, diesmal mit den gebogenen Eisenhaken, doch ihr gebrochener Arm versagte ihr den Dienst. Hilflos sah sie, wie die Waffe ihren Fingern entglitt.
    Erst jetzt bemerkte sie, daß auch ihr Bein gebrochen war; es knickte leblos unter ihr ein. Sie taumelte, schlenkerte den gesunden Arm wild durch die Luft, dann fiel sie neben Orm auf die Knie, sackte zur Seite und lag da, mit pfeifendem Atem, verzweifelt dagegen ankämpfend, das Bewußtsein zu verlieren.
    Erst als sie neben dem Mann lag, der sie betrogen und geschlagen hatte, wußte sie genau, was zu tun war. Sie schleppte sich kriechend zur offenen Tür, Zentimeter um Zentimeter. Noch ein wenig ... Sie konnte es schaffen.
    Orm grunzte.
    Sie schloß die Augen und flehte zur Göttin Freya. Das schien ihr Kraft zu geben. Sie bekam den Türriegel zu fassen
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