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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit
Autoren: Edward Rutherfurd
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hinabschaute, spürte er eine Regung von Stolz.
    Nur wenige Weiße hielten es für nötig, sich mit den Indianern näher zu befassen, um sie ein wenig zu verstehen. Und hätte er es getan, fragte er sich, wenn die Mutter des Mädchens nicht gewesen wäre?
    Selbst die Siedlung auf Manhattan war aus einem Missverständnis hervorgegangen. Als die dort ansässigen Indianer einen Packen Waren von Pierre Minuit angenommen hatten, war die Abmachung für sie klar gewesen: Die Weißen gaben ihnen das übliche Geschenk für das Recht, ein, zwei Jahreszeiten lang ihre Jagdgründe nutzen zu dürfen. In europäischen Begriffen hätte man das als Pachtzahlung bezeichnen können. Da die Indianer keinen individuellen Landbesitz kannten, wäre ihnen die Idee, dass Minuit ihnen das Land für alle Zeiten abkaufen wollte, nie in den Sinn gekommen. Nicht dass es die braven Bürger von Neu-Amsterdam sonst groß gekümmert hätte, dachte van Dyck bitter. Die niederländische Vorstellung von Grundeigentum war pragmatisch: Saß man erst drauf, besaß man es auch.
    Kein Wunder, dass es im Laufe der Jahre immer wieder mal Reibereien gegeben hatte, wenn erzürnte Indianer angriffen. Abgelegene Siedlungen am Fluss waren gezwungenermaßen aufgegeben worden. Selbst hier auf Manhattan hatten zwei holländische Weiler – Bloemendaal, ein paar Meilen die Westseite hinauf, und Nieuw-Haarlem im Norden – schwere Schäden erlitten.
    Aber am Ende eignete sich der Weiße Mann immer mehr Land an. Niederländischen patroons wurden flussaufwärts ausgedehnte Gebiete zugesprochen. Ein Schwede namens Jonas Bronck, der auch eine Weile in den Niederlanden gelebt haben sollte, hatte die dort ansässigen Indianer bezahlt, damit sie seinen riesigen Batzen Land, unmittelbar nördlich von Manhattan, räumten. Ein paar kleine Gruppen von Indianern schlugen sich noch auf Broncks Land und in den wilderen Teilen von Manhattan mehr schlecht als recht durch. Das war alles.
    Van Dyck und seine Tochter waren ungefähr fünf Meilen weit den Weg entlanggezogen und hatten ein waldiges Gebiet in der Mitte der Insel erreicht, als er entschied, es sei Zeit zu essen. Sie schlugen einen schmalen Pfad ein, der an kleinen Talsenken und zutage getretenen Auswüchsen von Grundgestein vorbei nach Westen führte, bis sie zu einer Lichtung gelangten, wo Walderdbeeren wuchsen. Van Dyck saß ab und band sein Pferd an einem Bäumchen an. Er breitete eine Decke auf dem Boden aus und forderte Bleiche Feder auf, sich zu setzen.
    »Jetzt«, sagte er lächelnd, »wollen wir mal sehen, was dein Vater gekauft hat.«
    Es war überhaupt nicht schwierig gewesen, Maisgrieß, Rosinen, Hickory-Nüsse und ein paar Stücke Räucherfleisch zu bekommen – die Zutaten zu der Mixtur, die die Indianer pimikan nannten. Dazu niederländischen Krautsalat und Roggenbrot. Aber er hatte auch ein paar niederländische Leckereien gekauft – Pralinen und Kekse –, die jedem Kind geschmeckt hätten. Seite an Seite teilten sich Vater und Tochter zufrieden die Mahlzeit. Sie hatte gerade ihren ersten Keks gegessen, als sie sich zu ihm wandte und fragte: »Meinst du, ich sollte mir eine Tätowierung machen lassen?«
    Van Dyck blieb kurz stumm. Was für eine entzückende Erscheinung sie war! Ihre kleinen Füße steckten in Mokassins, ihr langes schwarzes Haar war hinten mit einer Lederschnur zusammengebunden. Wie die meisten Indianermädchen ihres Alters bedeckte sie in den warmen Monaten des Jahres nur den unteren Teil ihres Körpers mit einem knielangen Rock aus Hirschleder. Abgesehen von dem kleinen Anhänger war ihr Oberkörper nackt; ihre Brüste hatten noch nicht angefangen zu wachsen. Ihre Haut – durch eine hauchdünne Schicht Waschbärfett gegen Sonne und Mücken geschützt – war makellos. In ein paar Jahren würde sie wahrscheinlich einen Hauch rote Farbe auf ihre Wangen auftragen und die Augen dunkel umranden. Aber bis dahin, hoffte er, würde sie genau das vollkommene kleine Mädchen bleiben, das sie war. Nicht dass die indianischen Frauen so große Tätowierungen wie die Männer getragen hätten. Aber trotzdem …
    »Ich glaube, du solltest besser warten«, sagte er vorsichtig, »bis du verheiratet bist, und dann eine Tätowierung aussuchen, die deinem Mann gefällt.«
    Sie überlegte und nickte.
    »Ich werde warten.«
    Sie saß stumm da, aber er hatte den Eindruck, dass sie über etwas nachdachte. Nach einer Weile schaute sie zu ihm auf.
    »Hast du jemals einen Bären getötet?«
    Der Übergangsritus. Um
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