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Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)

Titel: Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Autoren: Emma Temple
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heraus.
    Marsden runzelte die Stirn. »Hass ist ein großes Gefühl …«, begann er vorsichtig.
    Anne schüttelte den Kopf. »Aber mein Leben kann man nur hassen. Kein Mensch, der auch nur einen Funken anständig ist, könnte so ein Leben führen … Ich ekele mich vor den dreckigen Männern, ich muss würgen, wenn mich einer anfasst, und ich weigere mich, in einen Spiegel zu blicken, wenn ich in diesem von Gott verlassenen Kaff mal einen sehe.« Sie brach ab. »Aber ich wollte nicht jammern. Das bringt nichts, und wenn ich Euren Blick richtig deute, kann ich von Euch nicht einmal eine Portion Mitleid erwarten. Was ich von Euch will, ist etwas anderes. Ich will, dass Ihr meinen Eltern eine Nachricht zukommen lasst. Sie glauben, dass ich hier eine gut verheiratete Kapitänsgattin bin.«
    Der Missionar musterte ihre Erscheinung. »Und du willst ihnen sagen, dass du in Wirklichkeit in der Gosse gelandet bist und in dem verwerflichsten Ort der südlichen Hemisphäre anschaffen gehst, aber eigentlich nichts dafür kannst?« Sein Akzent offenbarte seine Heimat: Er rollte die Rs und sang auf eine Weise, wie es nur die Männer aus Schottland taten. Anne mochte seinen stillen Vorwurf nicht, den er in jeder Sekunde und mit jeder Pore ausschwitzte.
    »Ihr verurteilt mich, weil Ihr seht, wer ich bin. Das solltet Ihr nicht tun. Verurteilen dürft Ihr mich nur, wenn Ihr mich kennenlernt und Euch Zeit für meine Geschichte nehmt«, erklärte sie kurz. »Und nein: Ich möchte meinen Eltern kein Leid zufügen. Sie sollen in dem Wissen alt werden und sterben, dass sie eine glückliche Tochter haben, die gerne am Strand des Meeres sitzt und alte englische Weisen singt, während sie auf ihr erstes Kind hofft.«
    »Das ist eine Lüge«, erklärte der Missionar. »Das kann ich schwerlich gutheißen.«
    »Lüge? Ja.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber gnädig. So müssen die beiden nicht mehr jeden Abend rätseln, ob ich mit meinem Mann tatsächlich ins Glück gesegelt bin. Dann schlafen sie wieder gut. An meinem Leid ändert das nichts, aber ihr Leben wird so ein wenig friedlicher.«
    »Warum schreibst du deine Grüße nicht selber? Irgendeiner deiner Männer würde dir doch wohl den Gefallen tun, so ein Schriftstück in die Heimat mitzunehmen. Immerhin kommst du ihnen doch äußerst nahe, der eine oder andere wird sich bestimmt erkenntlich zeigen wollen … Oder kannst du nicht schreiben?« Er sehnte sich nach seiner Ruhe. Sicherlich schien jetzt die Sonne auf die kleine Bank hinter seinem Haus. Ein wenig dort sitzen, die Augen geschlossen … Er fühlte sich in diesem Augenblick kaum berufen, eine Seele zu retten. Noch dazu eine so verkommene.
    »Sicher«, antwortete Anne. »Und wenn er dann in ein oder zwei Jahren endlich wieder einen Fuß auf die grünen Wiesen Englands setzt, dann besucht er womöglich ganz romantisch meine Eltern. Die laden ihn auf ein Bier ein. Oder zwei. Bis er ihnen mit schwerer Zunge erzählt, dass ihre Tochter in Wirklichkeit eine Hure ist. Da ist es mir doch lieber, meine Post erreicht England gemeinsam mit den Briefen eines Missionars. Das wirkt doch sehr viel anständiger …« Zum ersten Mal schlich sich ein kurzes Lächeln auf ihr Gesicht. Offensichtlich gefiel ihr der Gedanke, dass Marsden die Post überbringen ließ. Sie streckte ihm einen mehrfach gefalteten Zettel entgegen. »Es ist keine große Bitte. Erfüllt einer verlorenen Seele diesen kleinen Wunsch. Und keine Sorge: Ich habe meine Post selber geschrieben. Meine Eltern haben mir vielleicht keinen guten Mann ausgewählt – aber meine Ausbildung war ihnen wichtig.«
    Samuel Marsden seufzte. Er war es gewohnt, dass die zwielichtigen Gestalten, die Kororareka ihr Zuhause nannten, von ihm nichts wissen wollten. Zumindest so lange nicht, bis es ans Sterben ging. Dann jammerten sie und schrien nach seinem Segen. Dieses Mädchen war anders. Sie schien sich zumindest ehrlich darum zu bemühen, dass ihre Eltern sich keine Sorgen machten. Der Schotte seufzte noch einmal. Dabei sollten sie sich Sorgen machen. Ihre Tochter war in einem der schlimmsten Orte der Welt gelandet und ging dort einem Gewerbe nach, das sie ganz offensichtlich nicht gewählt hatte. Kein seltener Fall – welches Mädchen träumte schon davon, dass sie als leichtes Mädchen in irgendeinem Loch für Seeleute endete?
    »Macht Ihr es?«
    Marsden schreckte aus seinen Betrachtungen auf. Das Mädchen hielt ihm immer noch auffordernd den Brief entgegen. Er nahm ihn, stand auf und
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