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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
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eine Frau schrie auf Spanisch: »Es sind die Franzosenschiffe, sie beschießen uns!«
    Der Wachsoldat, der dem anderen geraten hatte, den Jungen mit einem Knüppel zu prügeln, fasste die Mutter am Arm. Die zuckte zurück und riss Katharina mit sich. »Sie müssen hier weg, Señora«, beschwor sie der Soldat. »Der Hafen wird abgesperrt. Warten Sie nicht auf Ihren Kutscher, steigen Sie auf, ich fahre Sie.«
    »Scher dich weg, Carbon«, versetzte die Mutter zu Katharinas Verblüffung in schmutzigstem Spanisch, hob sie auf den Bock und sprang hinterdrein. Die Möwe schrie noch einmal. »Die Taube«, stieß die Mutter aus, »die verdammte Taube«, dann trieb sie das Pony mit schlagenden Zügeln in den Galopp, dass die Menschen nach allen Seiten flohen. Der Stand mit den zimtbraunen Schoten stürzte um. »Die Sanne kocht dir Süßes«, zischte sie, »so viel du willst, aber du sagst keinem Menschen, was wir heute getan haben, hörst du? Keinem Menschen!«
    Katharina nickte. Ein deutsches Mädchen log zwar nicht, aber Katharina hatte seit längerem begriffen, dass es zuweilen wichtiger war, ein kluges als ein deutsches Mädchen zu sein. Unter dem schwellenden Kanonendonner und den Schreien der Menschen fuhren sie aus dem Hafen, durch das Gewirr der Gassen, schließlich am mannshohen Strauch vorbei und in die Siedlung mit den Giebeldächern. »Hier sind wir sicher, hier kann uns nichts mehr geschehen.« Aus tiefer Kehle atmete ihre Mutter auf. Ein Blick in ihr Gesicht verriet Katharina, dass sie geweint hatte.
     
    Was an jenem Novembertag begann, sollte als Guerra de los Pasteles – Kuchenkrieg – in die Geschichte Mexikos eingehen. Eine französische Flotte war in die Bucht von Veracruz eingedrungen, hatte die Festung mit Granaten beschossen und den Hafen besetzt. Angeblich beruhte dieser Angriff auf der Klage eines französischen Kuchenbäckers, der von mexikanischen Soldaten beraubt und nicht entschädigt worden war, doch in Wahrheit war der Konflikt zwischen Frankreich und dem jungen Staat Mexiko viel undurchsichtiger und älter. Die Blockade des Hafens sollte acht Monate dauern und dazu führen, dass Katharinas Mutter unentwegt nörgelte, weil sich nirgendwo grüne Heringe auftreiben ließen. Die meisten Händler der Stadt erlitten Schlimmeres als Mangel an Heringen, denn sie konnten ihre Waren nicht ausführen und mussten schmerzliche Verluste hinnehmen.
    Die deutschen Kaufleute überstanden die Krise, obgleich sie schwer zu kämpfen hatten. Es war schließlich nicht die erste. Seit zwanzig Jahren jagte in Mexiko ein Aufruhr den anderen, und obendrein saß ihnen die Konkurrenz der Engländer und Franzosen im Nacken, aber mit Ordnung, Fleiß und Geschäftssinn hatten die Männer der Siedlung sich bisher nach jedem Rückschlag wieder aufgerappelt. Solche Zusammenhänge begriff Katharina jedoch erst wesentlich später, und an jenem Novemberabend, als sie sich zu Ben in den Stall schlich, quälten sie viel mehr die Bilder, die sie mit angesehen hatte, ehe das Geschützfeuer losbrach.
    Ben stand in einer der Boxen und striegelte die falbe Stute ihres Vaters. Er war schon zehn Jahre alt und Katharina erst sechs, aber wenn sie an ihre Vettern dachte, wurden Mädchen schneller reif als Jungen, und ihrer Freundschaft hatte der Unterschied im Alter nichts an. Bei ihrem Vater fühlte Katharina sich geborgen, von ihrer Mutter wusste sie sich umsorgt, und mit den Vettern und Basen vergnügte sie sich, aber reden, richtig reden konnte sie nur mit Ben. Mit hämmernden Sohlen rannte sie durch den Gang und rief den Freund beim Namen. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. Wie oft hatte er ihr gesagt, sie solle im Stall weder trampeln noch rufen, damit sie die Pferde nicht erschrecke?
    Ben wandte den Kopf, aber er hörte nicht auf, der Stute in ruhigen Strichen den Hals zu striegeln. Katharina erschrak. Sein dunkles Gesicht, das anders als bei ihren Vettern nichts Kindliches, Rundes an sich hatte, erinnerte sie jäh wieder an den Jungen im Hafen, und in Bens Blick schien die Angst des Fremden zu flackern. »Ich muss mit dir sprechen«, rief sie hastig, um das Beklemmende niederzukämpfen. »Jetzt sofort.«
    Beruhigend legte Ben dem Pferd die Hand auf die Nüstern, um sich zu verabschieden. Auf Pferde verstand sich keiner wie er, weshalb ihr Vater ihn schätzte und nur selten bestrafte. Katharina stapfte voran, und Ben folgte. Sie gingen an ihren geheimen Ort, in die Sattelkammer, in der es nach Leder, Heu und Pferden roch
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