Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
Vom Netzwerk:
verloren sich ein paar Häuser und Blechhütten, und dahinter erstreckte sich das Meer. So erhaben nahm sich das Bild des endlosen Wassers gegen den kümmerlichen Hafen aus, dass Katharina den Atem anhielt. Dort also lag sie, die Naturgewalt, die sie von der Heimat trennte. Wie seltsam das war! Kaum eine Viertelstunde Fahrt lebte sie von dieser Pracht entfernt und hatte doch den Eindruck, in einer anderen Welt zu sein.
    Auf der silbrigen Fläche des Meeres, über dem Nebelschwaden wie Schleier hingen, tanzten Schiffe, und weit draußen ragte die Festung San Juan de Ulúa auf. Der Vater hatte Katharina erzählt, sie sei auf eine der Küste vorgelagerte Insel gebaut, doch durch die Nebel hatte es den Anschein, als erwüchsen die trutzigen Mauern geradewegs aus dem Wasser. Wie schön das aussah, wie erhaben!
    Das Schimpfen der Mutter rief sie aus ihren Träumen. Sie zockelten schleppend voran, weil sich immer wieder Leute in den Weg drängten. Wolken würzigen Rauchs pufften aus den Öfen der Tortillabäcker, die einander überschrien, um ihre Waren anzupreisen. Vor dem Stand eines Mannes, der hundert Jahre alt sein musste und einen riesigen Strohhut trug, ballte sich eine Traube von Kindern, und vor ihm auf dem wackligen Tisch lag ein Berg zimtbrauner Schoten. Gebannt beobachtete Katharina, wie der Alte mit einer flinken Bewegung seines Messers das Fruchtmark aus der Schote schälte, einen Stock ins Mark steckte und es in einen Topf mit goldenem Sirup tauchte, dessen Anblick ihr den Mund wässrig machte. Grob riss die Mutter sie am Arm herum. »Sieh da nicht hin!«
    Empört setzte Katharina zu einer Erwiderung an. Zwar war ihre Mutter nicht so sanft wie ihr Vater, doch von beiden war sie nicht gewohnt, dass sie ihr Schmerz zufügten. Die Mutter aber gebot ihr Schweigen. »Sieh nicht hin«, wiederholte sie. »Wenn wir heimkommen, macht die Sanne dir Fruchtsülze, aber von dem Zeug da holt sich ein Christenmensch den Tod. Kannst du dir vorstellen, was die vor kaum vier Wochen hier verkauft haben? Totenschädel, Fratzen mit hohlen Augen, die haben sie sich in die Mäuler gestopft. Mir wird übel, wenn ich nur daran denke.«
    Katharina beschloss, der Mutter zu verschweigen, dass sie einen solchen aus Zuckerzeug geformten Schädel schon gesehen hatte. Ben hatte ihr den gezeigt, am 2 . November, dem Dia de los Muertos, und er hatte sie ein Stückchen davon abbeißen lassen. Der Schädel schmeckte süß und scharf zugleich, er war köstlicher als Heißwecken, Schmalzkuchen und sämtliche anderen Süßigkeiten, die aus der Heimat stammten und Katharina gestattet waren. Indem man ihn esse, ehre man einen Toten, hatte Ben erklärt, und dazu koche man dem Toten sein Leibgericht und verzehre es an seiner Stelle. Unwillkürlich musste Katharina an Labskaus, das Leibgericht ihres Vaters, denken, das sie aus tiefstem Herzen hasste. Wie gut, dass ihr Vater nicht tot war. Den Zuckerschädel hätte sie hingegen gern für ihn vernascht, aber das blieb besser ein Geheimnis zwischen Ben und ihr.
    Die Mutter hetzte das Pony durch die Massen. Wenn Katharina ihr am Straßenrand etwas zeigen wollte, sah sie nicht hin, sondern blickte starr geradeaus, und von der Stirn troff ihr Schweiß, obwohl es Ende November und nicht mehr sonderlich heiß war. Vor Anstrengung presste sie die Lippen zusammen, und in den Augen brannte ihr Angst. Angst wovor?, fragte sich Katharina. Was konnte imstande sein, ihrer kaltschnäuzigen Mutter Angst einzujagen?
    Menschen versuchten nach ihrem Wagen zu greifen, andere wiesen hinaus aufs Meer und sprachen erregt über die Reihe der Schiffe, die vor der Festung auf den Wellen tanzten. Über der ganzen Szene lag eine eigentümliche Spannung, über die Katharina nicht länger nachdenken konnte, da ihre Mutter das Pferd mit einem scharfen Ruck zum Stehen brachte. »Du bleibst hier sitzen, hörst du?« Ihre Stimme klang drohend. »Du rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme.«
    Ehe sie antworten konnte, sprang die Mutter ab und stürmte durch die Menge davon. Katharina sah noch, dass sie ein buckliges Päckchen an die Brust drückte. Woher hatte sie das genommen? Sie musste es unter ihrem Cape verborgen haben, aber was konnte darinnen sein, dass es die Tochter nicht sehen durfte? In der buntgekleideten Menschenmenge stach das dunkle Kleid ihrer Mutter heraus. Katharina verfolgte, wie sie sich eine Schneise schlug und auf einen Mann zusteuerte, der wie unbeteiligt an der Ufermauer lehnte.
    Es war einer jener
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher