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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
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sie verraten, Christoph und ich. Ich bin auf sie losgegangen, und er stand dabei und schwieg. Vor nicht einmal zwölf Stunden hatte Marthe geglaubt, sie habe auf der Welt keinen Wunsch als den Sohn der Lutenburgs, und jetzt schien er ihr geradezu bedeutungslos. Mit beiden Händen fuhr sie in ihr stumpfes, störrisches Haar. Wie hatte sie überhaupt so verblendet sein können zu glauben, ein Peter Lutenburg werde sich mit ihr als Ersatz begnügen? Sie wünschte sich nichts mehr als einen Weg zu Vera. Aber wie kann es einen geben? Nach allem, was geschehen ist, wie könnten wir einander verzeihen?
    Durch die Stille der Nacht schnitt ein Heulen, zu grauenhaft, um menschlich zu sein. Marthe glaubte zu spüren, wie ihr das Blut in den Adern gefror. La Llorona, durchfuhr es sie. Der Geist der weinenden Frau, die in den Legenden der Indios ihre ermordeten Kinder beklagte. Und zugleich La Malinche, die Verräterin, die ihr Land an die Spanier verschachert hatte. Benimm dich nicht närrisch, schalt sie sich. Sie war keine abergläubische Mexikanerin, sondern eine Hartmann aus Hamburg, vernünftig und abgeklärt. Gewiss war es nur ein Kojote, der durchs Dunkel heulte, nicht der ruhelose Geist einer von Schuld gequälten Frau.
    Leg dich wieder hin, befahl sie sich. Ihr Kopf schmerzte höllisch, sie brauchte unbedingt Schlaf. Während das Geheul sich entfernte und ihre Gedanken ihre Schärfe verloren, wiederholte sie sich wie ein Gebet: Morgen früh wird mir etwas einfallen, morgen früh finde ich einen Weg zu Vera. Ich werde ihr erklären, dass ich nicht anders konnte, dass die Familie über alles geht – der Rest von Familie, das Einzige, was uns in der Wildnis Halt gibt.
    In der Finsternis sah sie Veras Augen, die ihr fremd und vertraut zugleich waren, und über diesem Bild schlief sie ein.
     
    Am nächsten Morgen rächte sich der Genuss des Pulque, des aus Agaven gepressten Weins, den Kurt gekauft hatte, weil echter Wein zu teuer war. Sie würde ihn nie wieder anrühren. In Marthes Kopf tobten Kampfstiere, und ihre Zunge schmeckte, als wäre ein Tier darauf verendet, doch das Schlimmste war die Scham. Die wirren Bilder der Nacht standen in blendender Leuchtkraft vor ihr. Am liebsten hätte sie sich unter die Decke verkrochen und geschlafen, bis der Tag vorüber war.
    Aber Marthe war kein Feigling. Wenn es die leiseste Hoffnung gab, das Zertrümmerte zu kitten, dann würde sie sie nutzen. Sie trat vor den Waschtisch und wusch sich mit schalem Wasser das Gesicht, schlüpfte in Rock und Bluse und machte sich auf den Weg. Froh war sie, dass sie keinem begegnete, nicht Christoph und schon gar nicht den Lutenburgs. Als sie die Tür aufschob, schlug ihr trotz der frühen Stunde Schwüle entgegen. Die ist schuld, dachte Marthe, diese Hitze, die nie nachlässt. Die macht uns krank im Kopf. Auf der Gasse herrschte schon Leben. Maultiertreiber zerrten ihre Tiere in Richtung Hafen, Frauen schleppten Schüsseln mit Eingemachtem, das sie zu verkaufen hofften, Schuhputzer stellten ihre Bänkchen und Bürsten auf. Marthe wünschte, es hätte ein Gesetz gegeben, das diesem Volk verbot, die Straßenzüge, in denen Deutsche wohnten, zu betreten. All das Fremde hatte ihr vom ersten Tag an Furcht eingejagt – und hatte ihre Furcht sich nicht auf grausamste Weise als berechtigt erwiesen?
    Kurz hielt sie inne, sah zwischen zwei Häusern hindurch nach Norden, auf die eisweiße Spitze des Vulkans. Sternenberg nannten sie ihn oder Berg der Weiße. Er war wie dieses Land, fand Marthe, zu hoch, um ihn je zu ersteigen, fremd und gewaltig und voll todbringender Geheimnisse. Das Küstenland, aus dem Marthe stammte, war weithin überschaubar und besaß keine Berge.
    Sie bog in die Straße ein, in der ihr Onkel Sievert und die Lutenburgs ihre Häuser hatten. An deren Ende stand das einzige Lagerhaus des Onkels, der sich ein Kontor im Hafen nicht länger leisten konnte. Es war ein fensterloses Gebäude mit Flachdach, ein Klotz aus Stein, von dem ihr Vetter Fiete behauptete, er habe in der Kolonialzeit als Gefängnis gedient. Hier herrschte Stille. Die indianischen Arbeiter, die Sievert bezahlte, damit sie ihm Waren hinunter zum Meer schafften, würden erst später kommen. Sie hatten, wie ihr Vetter Kurt sagte, die Morgenstunde nicht erfunden.
    Marthe hatte befürchtet, das Lager verschlossen zu finden, doch zu ihrem Glück stand das Tor mit den schweren Riegeln, die Kurt gestern vorgeschoben hatte, nur angelehnt. Schrill quietschten die Angeln, als sich
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