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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
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der es streng verboten war, an dem hohen Strauch vorbeizulaufen und die Siedlung zu verlassen, gewiss nicht dorthin mitnehmen. Schließlich bekundete sie oft genug, keine zehn Pferde brächten sie in dieses Loch voll Schlamm.
    Die Mutter hätte auch die Tanten bitten können, auf Katharina aufzupassen, Tante Inga, Tante Dörte oder Tante Traude, ohnehin wurden die Kinder der Familie ständig gemeinsam gehütet. Katharina, die außer einem Toten keine Geschwister hatte, genoss die Gesellschaft der Vettern und Basen, wenn ihr auch keiner so lieb war wie ihr Freund Ben. An diesem Tag aber bat die Mutter keine der Tanten um Hilfe. Es kam Katharina vor, als sollte niemand erfahren, dass sie so dringlich aus dem Haus wollte.
    Noch immer zeternd, packte sie Katharina in einen zu warmen Mantel und befahl Ben, den Einspänner vorzufahren. Der Vater hatte Ben und seinen Bruder Miguel als Lagerarbeiter eingestellt, doch da die Mutter nicht noch mehr Indios in ihrem Dienst wollte und deutsche Kutscher nicht zu bekommen waren, blieb Ben im Stall und kümmerte sich um Pferde und Wagen. An dem seltsamen Morgen scheuchte die Mutter ihn mit einem Schwenk der Peitsche vom Bock. »Pack dich, ich fahre selbst. Komm mir ja nicht nah!«
    Ben gehorchte. Die Mutter stieg auf den Bock und setzte Katharina neben sich. Sie war nicht zimperlich wie Tante Traude oder kränklich wie Tante Inga, und dass sie einen Wagen lenken konnte, machte Katharina stolz. Staunend bemerkte sie, wie die Häuser ihrer Siedlung mit ihren spitzen Dachgiebeln Reihen von niedrigen Bauten mit Flachdächern Platz machten, wie die Gassen enger wurden und sich mit Menschen füllten. Darüber vergaß sie jedoch nicht, was gesagt werden musste. »Ich mag nicht, wenn du so grob mit Ben sprichst, Mutter. Ben ist mein Freund.« Noch weniger mochte sie, wenn die Sanne, ihre Köchin, Ben mit dem Lederriemen schlug, auch wenn sie sagte, dass er es verdiene.
    Die Mutter zog die Zügel an und verlangsamte die Fahrt. »Unser Bursche ist der. Solche Freunde haben wir nicht.«
    »Ich schon«, widersprach Katharina. Sie wusste, dass Tante Traude dazu gesagt hätte, dem Kind gebühre eine Ohrfeige, aber sie wusste auch, dass ihre Eltern sie nicht schlugen. Weshalb sollten sie? Was sie sagte, war die Wahrheit, und dass ein deutsches Mädchen nicht log, hatte Lise ihr beigebracht. »Ben ist mein Freund«, wiederholte sie trotzig. »Und ich will, dass du nett zu ihm sprichst.«
    Ihre Mutter seufzte. »Man spricht auch nicht nett mit Kojoten«, sagte sie. »Und außerdem versteht der Kerl sowieso kein Wort. Ich wollte, wir bekämen unsere eigenen Leute für die Arbeit und bräuchten nicht die Wilden dazu.«
    Solches Gerede war natürlich Unsinn. Ben war kein Wilder. Er war im Haus, solange Katharina denken konnte, und ihre Sprache verstand er so gut wie seine eigene. Er erzählte ihr Geschichten, die bunter und geheimnisvoller waren als Onkel Fietes Märchen – von der tapferen Heldin Johanna Ortiz, die sieben Männern das Leben rettete, indem sie durch ein Schlüsselloch eine Warnung flüsterte, von den Zwillingsvulkanen Popocatepetl und Iztaccihuatl, die aus Liebe zueinander für immer brannten, und von dem Schlangengott mit den Federn, der aus seinem eigenen Blut den Menschen Leben schenkte. Ohne Ben, seine Geschichten und seine Wärme wäre Katharinas Leben farblos und trotz all der Menschen um sie ein wenig einsam gewesen.
    Jäh schwenkten ihre Gedanken um, denn in diesem Augenblick erreichten sie wahrhaftig den Malecon. Die Gasse, die das brodelnde Treiben ihnen ließ, war zu schmal für den Wagen, der sich seinen Weg förmlich erkämpfen musste. Sand und Kiesel knirschten unter den Rädern, und die Massen, die sich zu beiden Seiten drängten, schienen zu wogen, zu summen und zu singen. Frauen in farbenfrohen Rebozos hielten ihnen Früchte entgegen, und Katharina wusste nicht, was sie mehr fesselte, die leuchtenden Farben der Waren, die stacheligen Kaktusglieder und zarten Kürbisblüten oder die Gesichter der Frauen, die dunkel und scharf wie mit der Machete geschnitten waren.
    Sie musste sich auf dem Kutschbock aufrichten, um über die Köpfe hinwegzusehen. An den Rändern der Uferstraße, unter den Kronen der Palmen, reihten sich Stände, auf denen sich Pyramiden der eigentümlichsten Güter häuften – haarige Nüsse, laubgrüne, hartschalige Birnen, blutrote Schoten und duftende Bündel von Kräutern. Hinter den Ständen, schlecht geschützt von einer niedrigen Ufermauer,
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