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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
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feindlichen Welt, in der einem morgen geraubt werden konnte, was man heute aufgebaut hatte. Es war gut, dass sie zu Peter und Marthe gingen, heute wie an allen Feiertagen. »Leg doch die Silberkette um«, murmelte er so leise, dass Inga es schwerlich hören würde. »Die mag ich gern an dir.« Damit verließ er das Schlafzimmer, ging hinüber in die Schreibstube und stellte sich ans Fenster, um hinaus in die Heilige Nacht zu starren.
    War sie denn nicht heilig? In der Fremde nicht weniger als in der Heimat, auch wenn kein Schneegestöber, sondern Wärme und Blütenduft sie erfüllten – war es nicht auch hier eine Nacht, die Wunder wirken konnte?
    Christoph Hartmann war in der Hansestadt Hamburg zur Welt gekommen und hatte als einziger Sohn eines Kaufmanns geglaubt, sich um die Zukunft nicht sorgen zu müssen. In Wahrheit war dem Handelshaus Hartmann bereits während der Handelskrise von 1799 ein schwerer Schlag versetzt worden, und 1810 , im Jahr von Christophs Geburt, hatte es den eigentlichen Todesstoß erhalten. Damals hatte Napoleon seine Kontinentalsperre gegen Großbritannien verhängt, und Männer wie die Brüder Torben und Sievert Hartmann, die auf Kolonialwaren angewiesen waren, erlitten Verluste, von denen sie sich nicht mehr erholten. Während aber Sievert entschlossen nach einem Ausweg suchte, lebte Christophs Vater weiter wie bisher, gab Geld aus, das er nicht besaß, und wiegte seine Kinder in Sicherheit.
    Als Mexiko 1821 die Unabhängigkeit von Spanien errang und dem internationalen Handel seine Pforten öffnete, reifte in Sievert der Plan, das nahezu bankrotte Unternehmen in die Neue Welt zu verlegen und mit seiner Familie nach Mexiko auszuwandern. Sievert hatte den Reisebericht Alexander von Humboldts gelesen, der von fruchtbarer Erde und unermesslichen Bodenschätzen schwärmte, und sein Entschluss stand fest. Wenige Jahre später ging er in Liverpool an Bord und ließ die Heimat hinter sich. Natürlich wollte er zurückkehren. All die Menschen, die in der Siedlung lebten, wollten zurückkehren. Sie sprachen davon wie von der Regenzeit, von der sie zwar nie genau wussten, wann sie anbrach, von der sie aber sicher waren, dass sie kam.
    Sievert war nicht zurückgekehrt. Er lag in Veracruz begraben. Der Abschluss der Handelsverträge, die die Hansestädte mit Mexiko abzuschließen hofften und die den Kaufleuten Schutz gewähren sollten, wurde wieder und wieder hinausgezögert, und das von Kämpfen zerrissene Land nahm mehr, als es geben konnte. Sievert Hartmann hatte ums Überleben seiner Familie ringen müssen. Die Mittel, die zur Rückkehr nötig waren, hätte er nie und nimmer aufgebracht.
    Werden wir zurückkehren? Noch immer stand Christoph reglos am Fenster und sah hinaus in die Schatten der Nacht. Etwas in ihm glaubte zu wissen, dass sie nie zurückkehren würden, dass all die Geschichten von der Heimat dem inhaltslosen Gesäusel glichen, mit dem man Kinder tröstete. Dieses Land war ihr Schicksal geworden. Die jungen Leute, die im April des Jahres 1831 die Vertrautheit Europas verlassen hatten, existierten nicht mehr.
    Christophs Vater war aus seiner Scheinwelt erst aufgeschreckt, als es zu spät war – das Erbe des Sohnes verloren, die Mitgift der Töchter verspielt. In seiner Not hatte er nach dem letzten Strohhalm gegriffen und sich des Bruders in der Ferne erinnert. War Mexiko nicht das fruchtbare Land des ewigen Frühlings, in dem die Berge im Sonnenlicht glänzten, weil so viel Silber sich darin verbarg? Gewiss war doch Sievert längst ein gemachter Mann, der, obwohl er selbst zwei Söhne hatte, einen Neffen im Geschäft gut brauchen konnte. Zudem hieß es allenthalben, die Scharen der Auswanderer, die ihr Glück gemacht hatten, sehnten sich nach Frauen, um ihren Wohlstand mit ihnen zu teilen.
    Torben Hartmann nutzte den letzten Kredit, den man ihm gab, und kaufte seinen Kindern Schiffspassagen. Onkel Sievert werde alles richten, versprach er ihnen zum Abschied, er werde Christoph eine angemessene Stellung und Marthe und Vera Ehemänner verschaffen, sie brauchten sich um nichts zu sorgen. Dass es anders gekommen war, dass der deutsche Bergwerksverein, in den Sievert investiert hatte, vor dem Konkurs stand und der Onkel kämpfen musste, um seinen Söhnen und ihren frisch gegründeten Familien das Nötigste zu verschaffen, hatte der Vater vermutlich nicht gewusst. Christoph seufzte und öffnete das Fenster, obwohl Marthe ständig davor warnte. Die zu schwere, zu warme Luft trug eine
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