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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök
Autoren: Oliver Henkel
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Nacht.
Tubber raffte sich stöhnend auf. Mit einer Hand klopfte er sich den Dreck von der Kleidung, die andere streckte er nach Chantal aus, die noch immer kreidebleich am Boden lag und kein Wort herausbrachte, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein.
»Dünnbrot lässt Ihnen ausrichten, dass wir jetzt weiterfahren müssen«, keuchte er atemlos.
* * *
    Müde blinzelte Tubber in die Dunkelheit und zog zum wohl zwanzigsten Mal die Wolldecke zurecht. Er hatte Dünnbrot das Steuer übergeben, um ein wenig zu schlafen.
Doch er fand keine Ruhe. Schuld daran war weder das unentwegte Rütteln des Lastwagens noch der Dieselgeruch im Laderaum; vielmehr beschäftigten ihn zu viele Dinge, als dass er einfach die Augen hätte schließen können. Otto Pallaschs bizarres Schicksal ließ ihn ebenso wenig los wie die erschreckende Erkenntnis, dass die Realität, wie er sie kannte, keinesfalls solide und unzerstörbar, sondern furchtbar zerbrechlich war. Er dachte über vieles nach, und jedes Mal, wenn er etwas zu verstehen meinte, wurde ihm sogleich klar, dass er sich in Wahrheit auf der Unterseite des Teppichs befand und von dem gewaltigen, kunstvoll gewebten Muster nur einige herunterhängende lose Fäden zu Gesicht bekam.
Am meisten aber machte ihm etwas ganz anderes zu schaffen. Mit seiner letzten Passage durch das Zeitportal waren die grausamen Kopfschmerzen verschwunden.
Sein Kopf war wieder frei. Doch zugleich war auch etwas anderes erloschen, das ihn lange begleitet hatte: das Gefühl, vorbestimmten, unabänderlichen Pfaden zu folgen. Er war wieder alleiniger Herr seiner Handlungen. Und er kam sich eigenartig im Stich gelassen vor. Der Drang, bereits geschehen Scheinendes zu erfüllen, hatte ihn vorangetrieben. Nun war dieser fort. Tubber fühlte sich einsam.
»John?«, meldete sich Gretas Stimme neben ihm aus dem Dunkel. »Schlafen Sie?«
»Leider nicht«, murmelte Tubber.
»Ich wollte Ihnen noch sagen ... wie Sie Chantal gerettet haben, war sehr mutig.«
Tubber gab ein leises, bitteres Lachen von sich. »Mutig! Leichtsinnig war das.
Beinahe wäre das für Fräulein Schmitt und mich in einer Katastrophe geendet, weil ich meine Fähigkeiten überschätzt hatte. Ich werde zu alt für solche Kunststücke.«
Er seufzte kaum hörbar. »Wieso mache ich das bloß?«
»Chantal retten?«, fragte Greta verdutzt.
»Nein, die Welt retten«, antwortete er resigniert. »Ich meine – diese Welt ist abscheulich! Was liegt mir noch an ihr? Ich habe ja nicht mal mehr einen einzigen Menschen, dem ich etwas bedeute.«
»Oh, einen gibt es ganz sicher.«
»Und wer soll das sein?«, fragte Tubber ungläubig. Weiter kam er nicht. Plötzlich spürte er, wie Gretas Hand unter seine Decke glitt.
»Für einen Geheimagenten bemerkst du aber erstaunlich wenig, John«, flüsterte sie ihm amüsiert zu.
Tubber wusste, dass er entrüstet protestieren müsste. Aber er tat es nicht.
Im Gegenteil.
     

16. März, 11:47 Uhr, Oberhalb der Eckertalsperre
    Die Staumauer, eine gut sechzig Meter hohe Betonwand, riegelte das enge Tal ab.
Das angestaute Wasser auf der anderen Seite bildete einen sich krumm zwischen den dicht bewaldeten Berghängen windenden See, dessen dunkelgraue Oberfläche vom Regen gekräuselt wurde. Gelegentliche Windböen trieben Wellen vor sich her, die in rascher Folge zornig gegen den Damm schlugen.
Am Fuß der Staumauer nahmen tausend SS-Männer ihre Positionen ein. Mit ihren khakifarbenen Tropenuniformen wirkten sie inmitten der regenverhangenen Harzwälder wie ein absonderlicher Irrtum. Auf einer Holzplattform von der Größe eines Fußballfeldes, die mit schimmernden Metallplatten belegt war, formierten sie sich um den großen Stapel in Kisten verpackter Ausrüstung, der den Mittelpunkt bildete. An den Rändern der Plattform standen in regelmäßigen Abständen mächtige Magnetspulen, untereinander verbunden mit armdicken Kabeln.
Tubber hatte vorerst genug gesehen. Er setzte das Fernglas ab und biss sich sorgenvoll auf die Unterlippe.
Sie befanden sich am Hang oberhalb der Staumauer; dort, wo der befahrbare Weg endete und Bäume den Lastwagen allen Blicken aus dem Tal entzogen. Bis hierher waren sie ohne Zwischenfälle gelangt, weil die Nazis bereits alle Wachposten zurückgezogen hatten. Doch nun zeigte sich, dass sich ihnen ein möglicherweise unüberwindliches Hindernis in den Weg stellte.
»Was halten Sie davon?«, fragte er Dünnbrot, der sich neben ihm hinter dem Busch verborgen hielt. Er wollte ihm das Fernglas reichen, doch der
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