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Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Prüfungsordnung des zuständigen Ministeriums leidet. Für den erwachsenen Bewerber stehen einschlägige Ratgeber, Kurse und Seminare bereit, um ihn auf einen erfolgreichen Testablauf hin zu trimmen. Die einfachste Erklärung hat jedoch der kluge Entdecker selbst geliefert: »IQ-Tests messen nicht die Intelligenz«, sagt er, »sie korrelieren eher schwach mit ihr. Das ist die Hypothese, die am besten zu den Ergebnissen paßt.« Flynn war allerdings nicht der erste, dem das aufgefallen ist. Schon 1923 hat Edwin G. Boring, ein angesehener Harvard-Psychologe, erklärt: »Intelligenz ist das, was Intelligenztests testen.« 25 Dieser Zirkelschluß muß jeden Verfechter solcher Testverfahren verdrießen; abgeschreckt hat er noch keinen.
    Allerdings, eine süße Versuchung hält der Flynn-Effekt für die Wissenschaft bereit: Er verträgt sich wohltuend mit einer fixen Idee der Moderne, einem Zeitalter, das sich von jeher allen früheren Epochen, von der Steinzeit bis zum Mittelalter, überlegen wähnte. Dieser tiefsitzende Dünkel, der mit einer gewissen Fortschrittsidee zusammenhängt, geht Hand in Hand mit der Überzeugung, daß die Gegenwart den Gipfel der bisherigen Menschwerdung darstellt. Implizit oder explizit hält die Moderne unsere Vorväter für dümmer als sich selber. Diese Vorstellung läßt an Borniertheit nichts zu wünschen übrig. Sie verrät nicht nur ein historisches Bewußtsein, das auf die Zeitgenossenschaft geschrumpft ist; sie ist auch unter dem Gesichtspunkt der Evolution unsinnig. Schließlich ist es kein Geheimnis, daß die für das Überleben des homo sapiens wesentlichen Grundlagen, von der Landwirtschaft und der Viehzucht bis zur Mathematik und der Schrift, schon vor Jahrtausenden geschaffen worden sind.
    Es liegt auf der Hand, daß Gemütern, die das alles nicht einsehen wollen, der sogenannte Flynn-Effekt behagen muß. Daß alle Erhebungen, die ihm zugrunde liegen, auf die Vorurteile und Beschränktheiten derer geeicht sind, die sie erfunden haben, scheint die Experten kaum zu stören.

XI.
Auch eine Utopie
    Man könnte aus vielen Gründen glauben, daß die Konjunktur der Intelligenzmessung ihren Höhepunkt überschritten hat. Spätestens seitdem die Diskurshoheit auf die Gehirnforschung und die Kognitionswissenschaft übergegangen ist, macht die experimentelle Psychologie einen reichlich altbackenen Eindruck. Wie immer, wenn eine junge, übermütige Disziplin auf den Plan tritt, die ihren Vorgängern den Vogel zeigt, dürfen wir von ihren Vertretern neue Erkenntnisse und neue Irrtümer erhoffen.
    Dazu kommt noch eine weitere Anfechtung, der sich die traditionelle Testpraxis ausgesetzt sieht, und zwar im Modus ihrer Überbietung. In einer eher banalen Version geschieht das, indem das Monopol aufs Denken, das bisher den Lebewesen vorbehalten war, gebrochen wird. Warum sollen sie die einzigen sein, die sich mit dem Prädikat »intelligent« schmücken dürfen? Das fragen sich nicht nur die Produktentwickler, sondern auch ihre Helfershelfer aus der Werbebranche. Es gibt schließlich recht leistungsfähige Computer und andere interessante Geräte. Seit dieser Erweiterung unseres Horizonts sind wir von intelligenten Autos, Kochherden, Telephonen, Häusern, Waschautomaten und Küchenmaschinen umgeben. Das erste nationale Sicherheitsforschungsprogramm der deutschen Regierung trumpft sogar mit »optischen intelligenten Zäunen« und »intelligenten Detektorplattformen« auf, um uns vor allen denkbaren Unbilden zu schützen.
    Noch weit ehrgeiziger sind die Propheten der Künstlichen Intelligenz. Sie verschmähen es, sich mit unserer Geschichte seit dem Pleistozän und mit unserer unbefriedigenden Gegenwart zu befassen, und haben sich statt dessen ganz der Zukunft verschrieben. Ihre innigste Hoffnung geht dahin, daß die Apparate, die wir erfinden, unsere Gehirne eines Tages gänzlich ersetzen werden. (Damit verlören zwar die IQ-Tester ihren Broterwerb; ein Verschwinden ihres Objekts hätte aber immerhin den Vorteil, daß wir uns über unsere eigene Intelligenz nicht mehr den Kopf zerbrechen müßten.)
    Entworfen wurde diese technische Utopie im Jahre 1956 auf einer berühmten Konferenz am Dartmouth College, die von der Rockefeller Foundation finanziert wurde. Einer ihrer führenden Köpfe, John McCarthy, hat auch den Begriff der Künstlichen Intelligenz (AI) geprägt. Als Brutkasten ihrer Adepten diente das Massachusetts Institute of Technology. Dort lehrten Kapazitäten wie Marvin Minsky, für den
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