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Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Menschen oft nur einen IQ von 50 erreichen, erbringen manche von ihnen sensationelle Leistungen. Dieses Phänomen hat es sogar zu einem wissenschaftlichen Namen gebracht: man nennt es das »Savant-Syndrom«. Ein idiot savant ist zum Beispiel in der Lage, auf Anhieb riesige Zahlen daraufhin zu prüfen, ob sie prim sind, oder er spielt mühelos eine Sonate nach, die er nur einmal gehört hat. (Die Psychologen stehen vor einem Rätsel.)
    Und drittens gibt die Hartnäckigkeit zu denken, mit der alle möglichen Tiere zum Vergleich herangezogen werden, ganz so, als hätte die Evolution außer uns nur bedauernswerte Mängelwesen hervorgebracht. Merkwürdig, daß das vieltausendjährige Zusammenleben mit dem Hund, dem Schaf, dem Rind, der Ziege, dem Pferd und anderen Gefährten die Menschheit nicht eines Besseren belehrt hat, ganz zu schweigen von unserer näheren Verwandtschaft, den Primaten.
    Dabei sind es ja nicht nur die uns nahestehenden Tiere, die eindrückliche Leistungen vollbringen. Ein Mensch, der versucht, sich mit einem Stadtplan in der Hand zu orientieren, wirkt hilflos im Vergleich mit der erstbesten Schwalbe, weil deren winziges Gehirn ein phantastisch effektives Navigationssystem beherbergt, mit dessen Hilfe sie unfehlbar über riesige Distanzen hinweg ihren Weg findet. Sogar die bescheidene Stubenfliege ist imstande, dem verärgerten Jäger mit der Klatsche immer wieder zu entkommen, weil sie über ein beneidenswertes System der Koordination und über ein Reaktionsvermögen verfügt, dem wir nichts Vergleichbares entgegenzusetzen haben. Und »mit Hilfe geometrischer Muster am Himmel, die im Laufe des Tages ihre Lage im Raum und ihre innere Struktur verändern, aber für uns Menschen unsichtbar sind, können Wüstenameisen nach geglücktem Beutefang sekundenschnell ihre direkte Rücklaufrichtung zum Nest bestimmen«. 7 Mögen diese Fähigkeiten auch nur sehr partiell dem entsprechen, was wir mit dem I-Wort zu beschreiben suchen, so verdienen sie doch eher Bewunderung als Geringschätzung.

IV.
Die ersten Vermessungsdirigenten
    Alfred Binet, ein Herr mit beachtlichem Schnurr- und Backenbart, Zwicker und Plastronkrawatte, war ein Menschenfreund. Geboren in Nizza, studierte er zunächst Jura, doch hatte er keine Lust, den Rest seines Lebens im Schwurgericht oder in einer Anwaltskanzlei zu verbringen. Er wandte sich einer neuen Wissenschaft zu, der Neurologie, und ging als Schüler Charcots an die Salpêtrière, wo er an dessen Experimenten mit der Hypnose teilnahm. Zu seinem Leidwesen erwies sich diese Therapie als fragwürdig, und er verabschiedete sich von seinem Lehrer. Man muß früher anfangen, dachte er, bei den Kindern. Daß er zwei Töchter hatte, bestärkte ihn in dieser Überlegung. Als im Jahre 1889 an der Sorbonne ein Laboratorium für Psychophysiologie gegründet wurde, war Binet mit von der Partie, und ein paar Jahre später wurde er zum Direktor dieses Instituts ernannt.
    Einer aufgeklärten französischen Regierung war inzwischen aufgefallen, daß es Kinder gab, die mit den Segnungen der allgemeinen Schulpflicht nichts anzufangen wußten, und sie berief eine Expertenkommission, die untersuchen sollte, woran das lag; wie man solche »schwierigen« Schüler beizeiten identifizieren konnte; und was zu tun war, um ihnen auf die Beine zu helfen. Vor eine solche Aufgabe gestellt, hatten Binet und sein Kollege Theodore Simon eine Idee, die sich als folgenreich erweisen sollte. Als gute Positivisten nahmen sie sich vor, etwas zu messen, was bis dahin nie beziffert worden war: die Intelligenz. Dazu erfanden sie eine Reihe von Aufgaben, von denen sie annahmen, daß sie den Fähigkeiten von Kindern einer bestimmten Altersstufe entsprachen. Sie berieten sich mit erfahrenen Lehrern und baten sie, Schüler auszuwählen, die in ihren Augen dem Durchschnitt entsprachen. Fünfzig solcher Kinder, zehn für jede von fünf Altersklassen, dienten ihnen als Testpersonen. 8 Kann ein Kind einem brennenden Streichholz mit den Augen folgen? Ist es imstande, dem Prüfer die Hand zu schütteln? Diesen Aufgaben waren selbst schwer behinderte Schüler gewachsen. Zeige auf dein Knie, deine Nase, deinen Ellenbogen! Wiederhole die folgenden drei Zahlen! Sage mir, was ein Löffel ist, eine Tür, eine Schwester! Und so weiter. Wie unterscheiden sich diese beiden Bilder? Kannst du einen Satz bilden, in dem die Wörter Geld, Wasser und bitte vorkommen? Der schwierigste Test lief darauf hinaus, daß das Kind für ein Wort wie Kohlen
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