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Im Herzen der Zorn (German Edition)

Im Herzen der Zorn (German Edition)

Titel: Im Herzen der Zorn (German Edition)
Autoren: Elisabeth Miles
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dieses Foto unter ihre Sachen gelangt? Sie blickte auf und musterte sich im Spiegel. An ihr war nichts Strahlendes. Ihre Stirn lag in konzentrierten Falten, ihre Schultern waren angespannt, ihr Haar hing schlaff herunter. Sie konnte nicht die Spur von Lucys Selbstvertrauen in ihrem Spiegelbild entdecken.
    Nein. Die Erinnerung an dieses Leben würde sie nicht bis nach Maine verfolgen. Lucy konnte keinen Schatten mehr auf sie werfen – nicht auf diese Entfernung.
    Hier würde es anders sein.
    Skylar ging zu dem Papierkorb in der Ecke ihres neuen Zimmers. Ruhig und entschlossen begann sie, das Foto zu zerfetzen. Sie riss es in ganz kleine Stücke und zerpflückte diese anschließend weiter, so lange, bis sie nur noch ein Häufchen buntglänzendes Konfetti in Händen hielt.
    Es fühlte sich unglaublich gut an, das Foto zu zerstören, genauso wie es sich gut angefühlt hatte, im Verlauf des letzten Jahres mühevoll zehn Kilo abzunehmen, genauso wie der Flug von Alabama nach Maine ihr ein heimliches Gefühl der Erleichterung gegeben hatte. Während sie durch die Luft flog, saß ihre Mutter bereits hinter Gittern.
    Skylar schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, während sie anfing, ihr Outfit für den nächsten Morgen herauszulegen: eine hippe weiße Carmenbluse, eine pinkfarbene Strickjacke, ihre dunkelblaue Lieblingsjeans und graue Ankleboots.
    Sie hatte die Chance, ihr Leben wieder aufzubauen – nein, sich überhaupt ein Leben aufzubauen. Akzeptiert zu werden. Geliebt. Ihr Blick fiel auf eine lange Silberkette und sie legte sie lächelnd neben die weiße Bluse. Ja. An der Ascension Highschool würde sie strahlen.
    Nicht, dass Skylar noch nie eine Treppe hinaufgestiegen wäre. Doch am nächsten Morgen stimmte irgendetwas mit ihrer Körperkoordination nicht und um 9.18   Uhr, zwischen der ersten und der zweiten Stunde, beging sie ihren ersten großen Fehler. Sie stolperte eine Treppe hinauf. Bumm .
    Sie schoss nach vorn, fing sich noch mit den Handflächen ab, landete jedoch um ein Haar mit dem Gesicht auf dem Boden. Sie blickte sich um – nur ein Meer von namenlosen Gesichtern, die sich gemeinsam zur nächsten Unterrichtsstunde bewegten. Der Stiefel von jemandem stieß ihre Tasche weg und sie kroch schnell hinterher, um sie aufzuheben, bevor sie die Stufen herunterpurzelte. Das Gesicht brennend heiß vor Scham, stand sie auf und klopfte sich ab, wobei sie versuchte, mit niemandem in Blickkontakt zu geraten.
    Dabei war es vorher auch nicht gerade super gelaufen. Das kurze Treffen zwischen ihr, Tante Nora und der Leiterin der Ascension High war alles andere als beruhigend gewesen. Direktorin Noyes schien daran zu zweifeln, dass Skylar in der Lage sein würde, in allen Fächern mitzukommen, und hatte ihr deshalb dringend empfohlen, in den Sommerferien Nachhilfe zu nehmen. Anschließend hatte Skylar sich auf der Suche nach dem Mathematikraum verlaufen. Und nun diese Blamage auf der Treppe. Sie hätte einen Tarnumhang tragen können und trotzdem noch das Gefühl gehabt, mitten im Rampenlicht zu stehen.
    Nach der zweiten Stunde – Französisch – bewegte sie sich im Laufschritt durch einen ansonsten leeren Gang. In einem der Klassenräume hatte sie gerade ein Anatomie-Skelett baumeln sehen, weshalb sie davon ausging, dass sie sich im Naturwissenschaftstrakt befand. Es hatte schon vor mehr als zehn Minuten geklingelt, aber irgendwie hatte sie sich auf dem Weg durch die Flure verirrt. Sie würde zu spät zu ihrem Biologiekurs kommen, wenn sie ihn überhaupt jemals fände. Sie zog ihren zerknitterten Stundenplan hervor und verglich die Angaben darauf mit den Nummern an den Türen. Schließlich gelangte sie zu Raum 209. Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck öffnete sie die schwere Holztür, nur um dahinter von zwanzig fragenden Blicken begrüßt zu werden – und keinerlei Hinweis darauf, dass es sich um den Biologieraum handelte.
    »Kann ich dir helfen?« Der Lehrer, ein etwas verwirrt wirkender Mann mit Brille und Kreide an den Fingern, wandte sich von der Gleichung an der Tafel ab und sah sie an.
    »Ähm, ja, ich suche … ist das … ich glaube, ich bin hier falsch«, stammelte sie. Die Zeichen, die an die Tafel gekritzelt waren, ließen keinen Zweifel daran, dass dies ein Mathekurs war. Und Geometrie hatte sie schon in der ersten Stunde gehabt.
    Der Lehrer antwortete nicht, sondern schien darauf zu warten, dass sie ging. Die anderen Schüler, die – wie Skylar peinlich berührt feststellte – alle älter
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