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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Autoren: Gunnar Staalesen
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dem Tag, als das Unglück passierte … Und ich weiß, daß du Holger Karlsen vor der Halle getroffen hast. Niemand hat ihn lebendig wiedergesehen, danach. Dafür gibt es nur eine Erklärung, Wulff«
Er knurrte mich höhnisch an. »Und mit wem hast du geredet? Dem Saufsack Osvold? ›Brandstelle‹? Wie lange glaubst du, würde er vor Gericht standhalten?«
»Wir könnten ja versuchen …«
»Nein, den Teufel werden wir, denn wir gehen nicht vor Gericht. Das Gericht, das ist hier und jetzt, Veum, und der Richter, das ist die hier …«
Er nickte zur Pistole. Sie schien ein strenger Richter zu sein und ich hatte keine anderen Verteidiger, als mich selbst. Ich richtete den Blick auf Elise Blom. »Sprich du mit ihm. Bring ihn zur Vernunft. Was fehlt ihm denn – Krebs?«
Sie starrte mit aufgeregten Augen von ihm und nickte schwach. »Ich hab’s ja versucht, schon … Es begann vor bald acht Monaten, mit Verstopfung und Durchfall, und jetzt hat er auch Schmerzen gekriegt und er blutet. Ich sehe die Flecken, wenn ich das Bett mache, oder saubermache, und in seinem Zeug. Er wird sterben, ich weiß es. Ich hatte geglaubt, du würdest – daß er auf dich hören – daß er, wenn er erst entdeckt war, wenn das Versteckspiel vorbei war, daß er dann bereit sein würde, ins Krankenhaus zu gehen. Die werden ihm doch nichts tun, oder? Wenn sie begreifen, wie krank er ist?« Sie sah mich mit bittenden Augen an.
Unwillkürlich wandte ich den Blick wieder Wulff zu, denn schließlich war er es, von dem wir sprachen.
Er hatte die Haltung geändert. Er saß weiter vorgebeugt, als hätte ein plötzlicher Bauchschmerz ihn sich zusammenkrümmen lassen, und er lehnte sich an die Tischkante. Eine dünne, kränkliche Schweißschicht war auf seine fahle Gesichtshaut getreten und ich sah, wie die Knöchel beim Griff um die schwere Pistole weiß wurden. Ein bitterer Kniff lief wie eine Verlängerung des Mundes bis zu den Kiefern, und ein schwindelnder, irrer Zug war in seine Augen getreten. Doch die Pistole war noch immer fest auf mich gerichtet, und die Mündung war noch immer gleich dunkel.
Wieder überkam mich das Unerbittliche und Unglaubliche daran, daß der Weg hier enden sollte, vielleicht für uns beide, vielleicht für uns alle drei. Das hier waren nicht die Menschen, mit denen ich mir zu sterben vorgestellt hatte. Das hier war nicht der Raum, in dem ich sterben wollte.
»Aber 1971«, begann ich.
»Halt die Schnauze!« hackte er zu. »Kein Gefasel mehr jetzt. Ich will – nicht.« Seine Stimme brach eine Sekunde lang. »Ich werde dir von dem Brand erzählen. Es war nicht so, wie du gedacht hast. Aber Hellebust kümmerte sich nicht um die Warnungen. Er war an den Versicherungsgeldern interessiert, aber wollte natürlich, daß die Leute rauskommen sollten. Alle, außer …«
»Holger Karlsen.«
»Ich weiß noch, als der Knall kam … Ich war überzeugt, daß alle, die da drinnen waren, tot sein müßten, aber ich mußte einfach unbedingt reingehen, ich mußte sehen, was mit Holger Karlsen war. Und das war ein Glück.«
»Sonst wäre er rausgekommen?«
»Sonst wäre er …« Er brach ab und zeigte die Zähne, aber diesmal nicht aus Hohn, diesmal vor Schmerzen. Er stöhnte leise. »Verfluchte Pest!«
»Begreifst du nicht, daß du zum Arzt mußt?« rief ich.
»Harald!«, sagte Elise Blom und ging auf ihn zu.
Er starrte sie wild an. »Bleib stehen! Ich erschieß dich, Elise.« Die Pistole schwenkte auf sie und ich verlagerte das Körpergewicht, aber im Nu war die Mündung wieder auf mich gerichtet. Ich blieb stehen. Elise Blom sank in die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Im Nacken sah ich deutlich den Absatz zwischen Haar und Perücke. Der Aufhänger in ihrem Kleid war abgerissen und der Nacken wirkte zerbrechlich und verletzbar. Aber niemand strich ihr übers Haar. Niemand tröstete sie.
Ich behielt Harald Wulff wachsam im Auge. Er saß jetzt wie eine gespannte Feder, aufrechtgehalten von Schmerz und Verzweiflung, und die schwarze, ölglänzende Pistole war der einzige feste Haltepunkt.
Meine Beine schmerzten und ich war nicht sicher, wie lange ich mich noch würde aufrecht halten können. Die Spannungen im Körper hatten sich nach unten fortgepflanzt und die Wadenmuskulatur zitterte. Es schmerzte in den Schenkeln und im Unterleib und im Magen rotierte die Todesangst wie eine gnadenlose Trommel. Ich nickte blind in Richtung der zwei Bilder an der Wand hinter ihm und sagte: »Du hast deine Überzeugung bewahrt, nach all diesen
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