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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Autoren: Gunnar Staalesen
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gewesen waren, hatte ich keine Probleme, ihn wiederzuerkennen. Es war Harald Wulff.
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    Es war einer der Augenblicke im Leben, in denen man plötzlich alles ganz klar sieht. Gleichzeitig stand alles still. Ich hatte ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit.
    Elise Blom hatte eine Zigarette hervorgeholt. Sie steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an, mit zitternder Hand. Sie stand als Silhouette vor dem Fenster, die Schultern unnatürlich hochgezogen, wie eine Theaterpuppe, die sich irgendwo festgehängt hatte.
    Harald Wulffs Hand zitterte nicht. Er hielt die Pistole ruhig und sicher. Ich stand wie eine Salzsäule, unbeweglich. Abgesehen von der Bewegung, mit der Elise Blom die Zigarette anzündete, bildeten wir ein erstarrtes, unwirkliches Dreieck.
    Mir war peinlich bewußt, daß das, was er in der Hand hielt, allem Anschein nach eine Luger war: das endgültige Bindeglied zwischen der Person Harald Wulff und dem unbekannten Mörder, den sie ›Giftratte‹ genannt hatten. Wenn sie die Projektile aus meinem Körper pulten, konnten sie sie in einen Umschlag tun und einen Merkzettel daraufsetzen, auf dem stand: Der endgültige Beweis. Aber ich würde dann nicht mehr dabei sein.
    Harald Wulff ließ mich keine Sekunde aus den Augen, als er sprach, aber er wandte sich nicht an mich. »Wer zum Teufel ist das, Elise?« knurrte er mit einer verbrauchten und krächzenden Altmännerstimme, die schon vor vielen Jahrzehnten das Ihre gesagt hatte.
    Ich starrte ihn unbeweglich an, während er sprach. Ich hätte ihn in einer Menschenmenge von Tausenden wiedererkannt. Es war dasselbe pferdeähnliche Gesicht, mit denselben groben Zügen, und das Haar war auf dieselbe Art nach hinten gekämmt wie auf dem Foto, das ich in der Innenseite meiner Jacke hatte. Es war nur in der Zwischenzeit völlig grau geworden: wolfsgrau. Die Furchen im Gesicht waren tiefer, der Zug um den Mund noch bitterer und die Haut war bleich und blaß wie bei einem Langzeithäftling. Und genau das war er wohl gewesen die letzten zehn Jahre. Wie alt war er? Ich rechnete nach und kam auf 67. Er hatte das Pensionsalter erreicht. Im Augenblick sah es nicht danach aus, als käme ich jemals so weit.
    Elise Blom zitterten nicht nur die Hände. Die Stimme war ebenfalls nicht besonders fest, als sie stammelte: »D-d-das ist de-der Pr-Pr-Privatdetektiv, von dem ich dir erzählt ha-habe …«
    Seine Augen wurden noch kälter über dem dritten, schwarzen Auge, das er in der Hand hielt.
»Ein Privatdetektiv?« spuckte er aus. Er rollte mit dem r. Einen Augenblick glitten seine Augen zur Seite, in einem ungläubigen Blick auf Elise Blom. Als er mich wieder ansah, ahnte ich etwas anderes und noch schwärzeres in seinem Blick. Es war Angst, bodenlose Angst, und das ließ einen Schauder durch meinen Körper fahren. Nichts ist gefährlicher, als ängstliche Raubtiere.
Elise Blom schrie auf: »Ich hab es deinetwegen getan, Harald. Du mußt …« Und dann kam, so leise, daß ich es fast nicht hörte: »… zum Arzt.«
Die dunkle Angst weitete sich aus, verbreitete sich über das Gesicht, zu dem matten Mund, der graubleichen Haut unter den Augen, den trockenen Hautstellen an der Seite des Halses. Die Hände, die die Pistole hielten, zitterten fast unmerklich und ich sah, daß Harald Wulff nur ein Schatten dessen war, der er einmal gewesen sein mußte.
Es fiel mir nicht schwer, ihn als Jungen vor mir zu sehen, oben auf dem kleinen Hof im Ulven-Gebiet, einem der dunkelsten Waldgebiete, die es in der Region um Bergen gibt, wo die Tannen so hoch und düster sind, daß du zum Puritaner geboren sein mußt, um dich zwischen ihnen wohlzufühlen. Ich sah ihn vor mir, in weiten grauen Hosen, die mit Trägern über einem nackten Oberkörper befestigt waren, barfuß draußen auf den Feldern, während er die Sense schwang, vor und zurück, vor und zurück. Der kräftige Oberkörper glänzte von Schweiß, und es machte gar nichts, daß er das eine Bein ein wenig nachzog: es wirkte fast natürlich dort draußen auf der Wiese. Die Haare waren lang und widerspenstig, aber im Nacken und um die Ohren kurzgeschoren. Selten einmal hielt er inne und stand da und starrte auf den blau-weißen Sommerhimmel, der wie ein lockendes Versprechen über dem dunklen Ulven-Gebirgskamm hing. Dann griff er wieder zur Sense.
Es fiel mir auch nicht schwer, ihn mir später vorzustellen, als er in die Stadt gezogen war und plötzlich ein braunes Hemd, neue Freunde mit frischen roten Wangen, lustige Lieder zu singen
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