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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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auf und beäugt die Kabine. Die Inneneinrichtung ist im Stil der späten siebziger Jahre gehalten, typischer Euro-Chic: ein Bett mit glänzendem schwarzen Plastik-Kopfteil und passender Frisierkommode, fadenscheinige rote Satinbettwäsche und schwarzer Bettüberwurf aus Velours. An der Wand über dem Bett hängt ein verblichener Druck von Big Ben in einem zerkratzten Plastikrahmen.
    »In den siebziger Jahren befand sich das Schiff im Besitz einer britischen Reederei«, kläre ich ihn auf, aus der Informationsbroschüre zitierend, die ich vom Reiseveranstalter in New York erhalten hatte. »Es wurde in den achtziger Jahren nach China verkauft und von Victoria in Red Victoria umbenannt.«
    »Gott schütze die Königin.« Dave schüttelt die Decken ab. Er fährt sich mit den Händen durch die Haare. Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass er damit aufhören soll. Dass es nicht fair ist, vor meinen Augen Dinge zu tun, die mir den Verstand rauben, weil sie so vertraut sind. Ich kann meinen Blick nicht von seinen Händen lösen. Ich erinnere mich, wie ich mit ihm in John’s Pizza an der 65 . Straße in New York City saß, kurz nachdem wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Wir hatten gerade eine große Pizza mit Peperoni und zwei Cola bestellt. Seine Hände lagen verschränkt auf dem Tisch, als wolle er vor dem Essen beten. Seine Hände hatten etwas beunruhigend Weibliches, eine Sanftheit, die nicht mit seiner überdurchschnittlichen Körpergröße und seiner tiefen Stimme übereinstimmte. Monate später lag er schwer atmend in meinem Bett. Er schlief auf dem Rücken, die Hände lagen auf dem Bauch; sie wirkten rundum dynamisch und perfekt positioniert, während sich der Rest seines Körpers unruhig und stöhnend hin und her warf in seinem typisch männlichen, unerfreulichen Schlaf. Manchmal fühle ich mich beim Anblick seiner Hände, die so lebendig aussehen können, als wären sie vom Rest des Körpers getrennt, wie ein unbeschriebenes Blatt, als hätten wir uns gerade erst kennen gelernt, als läge der Austausch von Intimitäten noch vor uns.
    Er steht auf. »Und, wie hast du geschlafen?«
    »Überhaupt nicht.«
    »Warum nimmst du nicht die Tabletten, die ich dir gegeben habe?« Er geht unter die Dusche, ohne die Antwort abzuwarten. Seine Bauchmuskulatur sieht fester aus seit seinem Auszug, beinahe zu stramm, wie bei den Muskelprotzen in den Westernsendungen am Sonntagmorgen, die Trainingsgeräte in ihren mit Informationen gespickten Fernsehwerbesendungen verkaufen.
    »Du siehst irgendwie anders aus«, sage ich.
    »Findest du?« Er macht die Tür hinter sich zu. Die Dusche beginnt zu rauschen.
    In der nächsten halben Stunde manövrieren wir uns in der engen Kabine geschickt aneinander vorbei. Ich tauche aus der Dusche auf, in ein Handtuch gewickelt, und stö bere in meinem Koffer, als ich spüre, dass Dave mich beobachtet. »Was ist denn das?«, fragt er mit Blick auf eine rote Schramme, die vom Oberschenkel bis zum Knie verläuft.
    »Rollerblade-Unfall im Park.«
    »Seit wann gehst du rollerbladen?«
    »Seit du weg bist.« Ich wünschte, er würde fragen, mit wem ich beim Rollerbladen war. Wenn er es täte, würde ich ihm nicht auf die Nase binden, dass ich alleine unterwegs war. Ich würde ihm vielmehr ein Lügenmärchen auftischen, von einem Mann, den ich bei einer Dinner party kennen gelernt habe, sportlich, geistreich, mit einem gut bezahlten Job.
    »Hey.« Er streckt die Hand aus und berührt die obere Spitze des Kratzers. Mein Herz beginnt zu hämmern.
    »Was ist?«
    »Du solltest die Wunde mit Jod desinfizieren.« Es gelingt mir, den Mund zu einem angedeuteten Lächeln zu verziehen, in der Hoffnung, einen sorglosen, unbekümmerten Eindruck zu machen. Dave sitzt auf der Bettkante und fängt an, seine Stiefel zuzubinden.
    »Man könnte glauben, alles sei völlig normal«, sage ich.
    »Was denn?«
    »Die ganze Situation. Das Morgenritual. Aufstehen. Anziehen. Wie gehabt.«
    »Hmmm.«
    »Das ist schön«, füge ich hinzu. Dave wendet den Blick ab, heuchelt lebhaftes Interesse für seine Schnürsenkel und ich komme mir auf der Stelle töricht vor, weil ich so viel von mir preisgegeben habe.
    Er steht auf, steckt sein Hemd in den Hosenbund, rückt den Hemdkragen zurecht. »Wie lange ist es her, dass wir uns getrennt haben? Zwei Monate?«
    »Und vier Tage.«
    Er schaltet den Fernseher ein, sucht Nachrichten in englischer Sprache. Ich weiß, was diese Geste zu bedeuten hat: Ende der Diskussion. »Schau dir das
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