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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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rasen mit überhöhter Geschwindigkeit an uns vor über. Dave hält an und steigt aus, späht über die Böschung, die Klippen hinab, wo der Wagen qualmend auf der Seite liegt, die Tür auf der Fahrerseite nach oben. Die Klippen sind steil, der Wagen befindet sich etwa fünfzig Meter unter uns. Im Innern bewegt sich etwas. »Ruf die 911«, sagt er zu mir, dann ruft er der Fahrerin zu: »Ganz ruhig. Ich komme runter und hole Sie.«
    Er geht zur Rückseite unseres Jeeps, öffnet die Heckklappe, nimmt Seil, Karabiner, Messer und Anseilgurt heraus. Ich sehe zu, wie er die Ausrüstung aus dem Hut zu zaubern scheint, während ich wähle. Nach dem vierten Läuten geht endlich jemand ran. Ich melde die erforderlichen Einzelheiten. »Mein Mann ist Rettungssanitäter«, füge ich hinzu. »Er kennt sich aus.«
    Dave schnallt den Gurt um, befestigt ihn am Seil. Wir sichern das andere Ende an der Abschleppstange des Jeeps. In dem Augenblick, als er sich rückwärts die Böschung hinunterlässt, schießt eine Stichflamme aus der Motorhaube des umgekippten Wracks empor. »Durchhalten!«, schreit er der Fahrerin zu und dann zu mir: »Ich brauche Wasser! Und den Erste-Hilfe-Kasten!« Mein Herz rast, als er sich in Richtung der Flammen abseilt. Ich hole eine Sechserpackung Wasserflaschen vom Rücksitz und den Erste-Hilfe-Kasten unter dem Sitz hervor. Ein weiteres Auto fährt rechts ran. Drei junge Männer im College-Alter steigen aus und gesellen sich zu mir auf den Rand streifen, blicken nach unten, sichtlich unentschlossen, was sie tun sollen. Einer von ihnen beginnt, die Böschung hin unterzuklettern, sie ist steil und vereist und er hat kein Seil. Sein Freund streckt die Hand aus und zieht ihn wieder hoch. In der Zwischenzeit pendelt Dave keine Handbreit über dem brennenden Wrack hin und her, das sich hoch oben auf dem Gipfel eines Felsens befindet, in einer prekären Lage. Von panischer Angst ergriffen, bete ich laut.
    Irgendwie gelingt es ihm, die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen, den Sitzgurt zu durchtrennen und die Fahrerin herauszuziehen; ihr Kopf bewegt sich und ich sehe, dass er etwas zu ihr sagt. Mit dem brennenden Auto in so unmittelbarer Nähe bleibt keine Zeit, sie ordnungsgemäß zu sichern. Er schiebt einen Arm unter ihre Knie, den anderen unter ihren Rücken, wie bei einer Braut, die über die Schwelle getragen wird. »Hochziehen!«, brüllt er und die drei jungen Männer erwachen aus ihrer Erstarrung. Sie ergreifen das Seil und ziehen nach Leibeskräften. Er hält die Frau eisern fest, arbeitet mit, indem er sich mit den Beinen auf dem felsigen Boden abstützt. Wenige Augenblicke später steht er auf dem Randstreifen, die Frau in seinen Armen. Sie hat schlimme Verbrennungen davongetragen.
    »Alles in Ordnung«, sagt er zu ihr. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Er blickt zuerst mich, dann die fassungslosen Zuschauer an. »Dritter Grad«, fügt er leise hinzu. »Ich brauche eine Kompresse zum Kühlen.«
    Während ich Verbandsmaterial mit Wasser befeuchte, bettet Dave die Frau auf den Boden, überprüft ihren Puls. Behutsam legt er die Kompresse auf die schneeweiße Haut ihres Gesichts, redet beschwichtigend auf sie ein. Können Sie mich hören? Spüren Sie das? Wie viele Finger halte ich hoch? Ihr Atem geht stoßweise. Sie stammelt etwas, Worte ohne erkennbaren Zusammenhang. »Fahrrad«, sagt sie. »Lampe. Handtasche. Billy.« Dave beobachtet sie genau, während wir auf die Ankunft der Ambulanz warten.
    Ich blicke zurück auf die Stadt, eine kantige Oase, die silbern im kalten Licht des Nachmittags schimmert. Die klaren Linien der George-Washington-Brücke wirken magisch aus dieser Entfernung. Ich gehöre in diese Stadt, die so leicht durchschaubar ist mit ihren nummerierten Straßen und übersichtlichen U-Bahnen, ihren akkurat ausgerichteten Straßenquadraten und den breiten Boulevards, die parallel zueinander von Norden nach Süden verlaufen. Daves Platz hingegen ist hier – auf einer Klippe am Rande einer vereisten Straße, eine sterbende Frau bergend.
    Wenn ich ihn bei der Arbeit sehe, liebe ich ihn mehr denn je. Während er sich um das Opfer kümmert, stehe ich untätig daneben, spüre die Nähe und Intimität des Austausches, der zwischen Rettern und Geretteten stattfindet. Und verstehe zum ersten Mal, was ihm bei mir fehlt: Ich habe keine Verbrennungen oder Brüche erlitten. Ich klammere mich nicht an das Leben.

5
    »Liegt das an mir oder schlafen wir in einer Diskothek?« Dave setzt sich abrupt im Bett
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