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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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eines Fisches, die Haare, frisch nach Fluss duftend und feucht, unsere Zehen, miteinander verschränkt in der öligen Wärme des Wassers, Fischschwärme, die federleicht zwischen unseren Waden hindurchglitten? Bevor sie zu be weisen versuchte, dass sie die Tochter war, die ihre Eltern sich wünschten.
    Samstagnachmittags wusch sie ihre Strumpfhose sorg fältig unter fließendem Wasser im Waschbecken des Bade zimmers und hängte sie anschließend zum Trocknen über die Duschstange, damit sie für den Sonntag frisch war. Sie wurde vereinnahmt von diesen Sonntagen, von den Diakonen der Anglikanischen Kirche, die behaupteten, Gottes Kinder zu lieben, doch ihrem Vater keine Liebe entgegenbrachten, und von den Bibelstunden, in denen keine Spur von Jesus zu finden war, weil der Jesus, den sie aus den Erzählungen ihrer Eltern kannte, es niemals ertragen hätte, sich den boshaften Klatsch und die unsinnigen Fra gen anzuhören. »Amanda Ruth, stimmt es, dass dein Vater aus dem Orient stammt? Esst ihr zu Hause Affenfleisch? Betet ihr zu Buddha?«
    »Buu-dah«, äffte sie die Leute nach, wenn wir am Telefon im Flüsterton miteinander sprachen. Ich stellte mir Amanda Ruth vor, eingeschlossen in ihrem Zimmer, das ich wie mein eigenes kannte, mit Ausnahme der Veränderungen, die Mr. Lee nach der Begebenheit im Bootshaus vorgenommen hatte. »Er hat mir sämtliche Madonna-Poster weggenommen und durch Andy Gibb ersetzt!«, flüsterte sie und sogar ich fand die Vorstellung lachhaft, die ihr Vater von normalen amerikanischen Jugendlichen hatte. Er wünschte sich mehr als alles in der Welt, dass seine Tochter zu einem typisch amerikanischen Mädchen heranwuchs.

4
    Es ist Winter in New York City und Dave und ich fahren die Palisades entlang nach Norden. Wir haben an lässlich unseres zehnten Hochzeitstages ein Zimmer in einer kleinen Frühstückspension in den Pocono Mountains reserviert, die uns ein herzförmiges Bett und Satinlaken verspricht. Ein Versuch, unsere Ehe zu kitten, die allmählich zu Bruch geht.
    Dave fährt langsam, weil die Küstenstraße vereist ist. Wir kutschieren schon seit etlichen Meilen immer hinter demselben roten Wagen her. Das Radio ist eingeschaltet; Terri Gross hat einen bekannten Komponisten zu Gast und sie unterhalten sich über die Rolle der Symphonie im einundzwanzigsten Jahrhundert. Dave und ich haben seit der George-Washington-Brücke kein Wort miteinander geredet. Ich versuche krampfhaft, mir unverfängliche Gesprächsthemen auszudenken, die ich anschneiden könnte, etwas Unpersönliches, bei dem die Katastrophe nicht gleich vorprogrammiert ist. Mittlerweile gibt es bei uns nur noch wenige Diskussionen, die nicht zu einem Streit führen. Folglich gehen wir immer häufiger jeder Unterhaltung aus dem Weg, hüllen uns in Schweigen. Während unser Jeep mit Allradantrieb am Rande der vereisten Straße entlang schleicht, überlege ich, wann genau unsere Ehe aus dem Ruder zu laufen begann. Doch es gibt keinen bestimmten Zeitpunkt, kein großes Problem, keine folgenschwere Untreue, die zum derzeitigen Zustand der Zerrüttung geführt haben könnten. Es trat vielmehr eine allmähliche Entfremdung ein. Die Nabelschnur, die uns miteinander verband, wie immer sie auch beschaffen sein mochte, wurde nicht durchtrennt, sondern langsam und unmerklich geschwächt.
    Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ich liebe meinen Mann nach wie vor. In meinem Koffer befinden sich, gut versteckt, Dessous aus Seide. Unser Zimmer in der Frühstückspension hat einen eigenen Whirlpool. Bei unserem Telefonat hatte mir die Inhaberin einen idyllischen Landgasthof für unser Abendessen am Hochzeitstag emp fohlen – Kerzenlicht, Champagner, Pralinen –, ich beabsich tige, alle Register zu ziehen, um die Leidenschaft neu zu entfachen. Ich weigere mich, das Handtuch zu werfen und diese Ehe kampflos aufzugeben.
    Vor uns blitzt etwas auf, ein Sonnenstrahl trifft auf Metall, blendet. Der Wagen vor uns schert mit einem Mal nach links aus, dann nach rechts und gerät ins Schleudern. »Festhalten«, sagt Dave. Er wechselt abrupt auf die nächste Fahrbahn über, um dem Wagen auszuweichen, der sich zweimal um die eigene Achse dreht, bevor er über die Böschung schliddert, in die Tiefe. Nach einer Sekunde, höchstens zwei, ist der Spuk vorbei. Dave fädelt sich wie der in die rechte Fahrbahn ein und fährt vorsichtig auf den schmalen, unbefestigten Randstreifen. »Könnte schlimm sein«, sagt er und setzt zurück, in Richtung Unfallort. Autos
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