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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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Gruppe von Passagieren macht unter Anleitung von Elvis Paris, einen chinesischen Universitätsstudenten knapp über zwan zig und unser Reiseleiter für die gesamte Kreuzfahrt, ungelenk Tai-Chi-Übungen neben dem Swimmingpool.
    Ich gehe durch die hell erleuchteten Gänge. Ich höre das Wasser in den Leitungen rauschen, das Summen der Duschen. Ich denke an die Ferien während meiner Kindheit, die ich mit meiner Familie in Alabama verbrachte. Wir standen auf, als es draußen noch dunkel war, ließen den Wagen die Ausfahrt zurückrollen, ohne Scheinwerfer, ohne den Motor anzulassen. Flüchten, nannte mein Vater diesen heimlichen Aufbruch: seine Vorstellung von einem Abenteuer. In jenen frühen Morgenstunden, bevor die Nachbarn aufstanden, wenn die Luft noch klar und kühl war, die Umrisse der Jasmin- und Azaleenbüsche kaum erkennbar in der Dämmerung, erschien mir unsere kleine Stadt in Alabama so exotisch und facettenreich wie China, wie ein Land, das gerade erst entdeckt worden war.
    Manchmal fuhren wir zu Amanda Ruth, die mit ihrer Mutter auf der Veranda vor dem Haus zu warten pflegte, ihr kleiner roter Koffer war auf der untersten Stufe abgestellt. Mein Vater stieg aus, lud Amanda Ruths Gepäck in den Kofferraum und öffnete den Schlag für sie wie ein Chauffeur. Während der Fahrt berührten sich unsere Schenkel und wir machten uns ein Zelt aus den Picknickdecken, die wir über unseren Köpfen aufhängten, und in unserer geheimen Höhle erzählte mir Amanda Ruth lange, ausgedachte Geschichten über ihre Vorfahren in China.
    Unten in der Kabine hat sich Dave auf dem Bett ausgebreitet. Ich ziehe mich aus und lege mich dazu. Das Doppelbett vermittelt seltsamerweise den Eindruck von Nähe. Zu Hause in New York haben wir eine Matratze in Über größe, die das ganze Schlafzimmer einnimmt. Unsere Kör per berühren sich kein einziges Mal während der Nacht. Berührten , verbessere ich mich. Nach zwölf Jahren Ehe fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform zu denken. Ich stelle mir immer noch vor, die Trennung sei ein Scherz, dessen Dave irgendwann überdrüssig sein wird. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages in unserer Wohnung Ecke 85. Straße und Columbus Avenue aufwachen und ihn im Tiefschlaf neben mir finden werde, wie jetzt. Ein paar Haare an seinen Schläfen sind grau geworden. Ich lege mein Gesicht an seinen Hals und atme tief ein. Er riecht gut und sauber. Obwohl er kein Eau de Cologne benutzt, hat er für mich immer besser als alle anderen Männer gerochen. Seit er ausgezogen ist, habe ich sein Kopfkissen nicht mehr gewaschen. Wenn ich abends schlafen gehe, liegt sein Kopfkissen fein säuberlich auf der linken Bettseite, doch wenn ich in der Frühe aufwache, umklammere ich es wie eine trauernde Witwe. Jeden Morgen nehme ich seinen Geruch wahr, noch immer, obwohl er mit jedem Tag ein wenig mehr verblasst.
    Um Punkt viertel nach sechs erschallt eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern, die in regelmäßigen Abständen in sämtlichen Gängen angebracht sind: »Bitte in Jangtse-Raum kommen für köstliches Frühstück. Heute wir haben viele interessante Aktivität für Ihr Vergnügen.« Dave rollt zu mir herüber, noch im Halbschlaf, und legt seinen Arm über meinen Bauch. Der Arm ist schwer und fühlt sich warm an auf meiner Haut. Ich streichle ihn und spüre die feinen Härchen unter meinen Fingern, ich betrachte sein Gesicht. Ich würde ihn gerne in die Arme neh men, wage es jedoch nicht. Er öffnet die Augen, sieht einen Moment lang verwirrt aus. Dann huscht ein Ausdruck des Wiedererkennens über sein Gesicht. Er hat das Schiff, die Kabine, das Bett eingeordnet. Hat mich eingeordnet.
    »China«, sagt er lächelnd. Er streckt die Arme zur Decke, die Handflächen nach oben gekehrt, die Finger miteinander verschränkt, und reckt sich, bis die Knö chel knacken. Eine Welle der Liebe durchflutet mich. Ich kenne diese Bewegungen durch und durch, habe sie mir in den zwei Monaten seiner Abwesenheit jeden Morgen vorgestellt. Dieses Aufwachritual gleicht einem Fingerabdruck: Jeder Mensch wacht auf seine ureigene Weise auf. Es kommt mir so vertraut vor, dass ich einen Augenblick lang das Gefühl habe, wir hätten wieder zu unserem gewohnten Leben, unserer Ehe zurückgefunden, als wäre alles so, wie es sein sollte, als sei die Nacht, die ich mit Graham an Deck verbracht hatte, nur ein kleiner Ausrutscher gewesen, den ich unter allen Umständen vor meinem Mann geheim halten müsste, der mich immer
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