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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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mein Bedürfnis war, sie zu machen, um einer stillschweigenden Verpflichtung gegenüber Amanda Ruth nachzukommen, und wahrscheinlich erklärte er sich deshalb schlussendlich einverstanden, mich zu begleiten. Als wir gemeinsam mit dem Taxi von seiner Wohnung zum Flughafen fuhren, die beiden Seesäcke zwischen uns auf den Sitz gequetscht, hoffte ich wohl insgeheim, mit dieser Reise unsere Ehe zu retten. Ich dachte, wenn es mir gelin gen würde, ihn von New York wegzulotsen, aus dem alten Trott herauszureißen, hätten wir vielleicht eine Chance. Ich stellte mir vor, wir könnten einander in diesem exotischen Land, in dem die alten Mechanismen außer Kraft gesetzt waren, neu entdecken.
    Plötzlich steht Graham auf und rückt seinen Liegestuhl näher heran, dann nimmt er wieder Platz. »Was denken Sie von mir?«
    Ich wäge meine Worte gründlich ab. Wir sind beide erwachsen und kennen die Spielregeln, zumindest im Ansatz. Zwei Erwachsene auf einem Schiff in der Dunkelheit, während mein Mann, der mich nicht mehr liebt – sich entliebt hat –, schläft. Alles, was ich von jetzt an zu Graham sage, ist Verhandlungssache. Jedes Wort definiert die Grenzen zwischen uns. »Ich habe mir noch keine klare Meinung gebildet.«
    Wir sitzen eine Weile schweigend da und ich stelle mich schlafend. Irgendwann zersplittert ein Glas. Als ich die Augen öffne, sehe ich Grahams Weinglas in Scherben zu seinen Füßen liegen.
    »Meine Hände«, sagt er entschuldigend, sein Gleichmut ist mit einem Mal wie weggeblasen. Seine Hände liegen im Schoß, die Handflächen nach oben gekehrt, und er sieht sie an, als gehörten sie jemand anderem. »Vermutlich denken Sie jetzt, ich sei betrunken.« Er schiebt die Splitter mit der Sandale unter den Liegestuhl. »Sie kommen an Deck, um einen ruhigen Abend zu genießen, und ich benehme mich wie ein Elefant im Porzellanladen. Möchten Sie, dass ich Sie alleine lasse?«
    »Ist schon gut. Ich fühle mich ganz wohl in Ihrer Gesellschaft.«
    »Was ist mit Dave?«
    »Der merkt nicht einmal, dass ich weg bin.«
    »Was ist, wollen wir die ganze Nacht hier oben verbringen?«
    »Einverstanden.«
    »Gut. Ich bekomme in letzter Zeit nicht viel Schlaf.«
    »Da haben wir etwas gemeinsam. Ich leide auch unter Schlaflosigkeit.«
    »Stimmt nicht. Ich habe Sie beim Schlafen ertappt.«
    »Nur ein kleines Nickerchen.«
    »Ihre Augäpfel haben sich bewegt. Was haben Sie geträumt?«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Es war nichts Besonderes, nur ein Traum.«
    »›Lernen wir träumen, meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit.‹«
    »Wie?«
    »Friedrich Kekulé, der deutsche Chemiker.«
    Im College gab es einen jungen Mann, der kein einziges Buch zu Ende las, sondern sich auf die ersten Kapitel beschränkte. Aus diesen stellte er Zitate zusammen, die er in einem großen roten Notizbuch unter verschiedenen Stich worten vermerkte: Natur, Romantik, Todesangst usw. Ein mal, in einem Lower-East-Side-Apartment, gestand er mir nach drei Martini, dass er diese Zitate auswendig lernte, um bei Frauen Eindruck zu schinden. Er pflegte sie bei Partys, in Bars oder beim ersten Rendezvous in die Unter haltung einzuflechten. Seine Taktik schien zu funktionie-ren – er war selten unbeweibt. Seither habe ich mir angewöhnt, jedem Mann, der ein interessantes Zitat zum Besten gibt, auf den Zahn zu fühlen.
    »Kekulé?«, frage ich. »War das nicht der Wissenschaftler, der behauptet hat, Politik sei nichts weiter als angewandte Biologie?«
    »Nein, Sie meinen Ernst Haeckel. Kekulé hat die Molekularstruktur von Benzol entdeckt. Sie ist ihm im Traum erschienen.« Er erzählt ein paar Minuten von Kekulé, dann bricht er mitten im Satz ab, vielleicht hat er das mangelnde Interesse meinerseits bemerkt. »Ich entwickle mich langsam zur Nervensäge«, sagt er errötend.
    Wir verfallen in ein angenehmes Schweigen. Unter uns das leise Grollen des Schiffsmotors, in meinen Knochen ein dumpfes Vibrieren. Hin und wieder passiert das Schiff eine Ansammlung von Lichtern am Ufer oder ändert den Kurs, um eine Barke zu überholen, die mit großen, rechteckigen Kisten beladen ist. Die Lichter der Sampans, die an uns vorüberfahren, blinken in der Dunkelheit. Einer dieser breiten Ruderkähne mit Verdeck hält direkt auf uns zu und ich bin sicher, die Red Victoria wird ihn aufschlitzen, doch in der letzten Minute dreht er ab und gibt uns den Weg frei.
    »Was machen die da?«
    »Sie schütteln ihre Dämonen ab«, erklärt Graham. »Früher, in alter
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