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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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einzige Mensch, den ich kenne, der tatsächlich dorthin reisen könnte.« Amanda Ruth kannte den Namen des Dorfes nicht, in dem ihr Vater geboren wurde, sie wusste nur, dass es irgendwo am Ufer des Jangtse lag.
    »Ich will die Asche in den Drei Schluchten verstreuen«, erkläre ich. »Ich denke, dort wäre sie gerne.«
    Ich habe damit gerechnet, dass Grahams Miene einen Hauch von Belustigung verrät, gepaart mit einem leichten Naserümpfen über eine derartige Gefühlsduselei, doch er nickt nur. »Macht Sinn, finde ich.« Ermutigt vertraue ich ihm Dinge an, die ich nur Dave erzählt habe, Dinge, die ich seit Jahren nicht mehr erwähnt habe. Ich erzähle ihm von den langen Tagen auf dem Demopolis River in Alabama, wie Amanda Ruth riesige Töpfe Reis kochte und wir mit Stäbchen aus kleinen Porzellanschalen aßen, die wir auf dem Flohmarkt entdeckt hatten. Wie wir mehrere Fünf-Pfund-Säcke Reis im Kleiderschrank von Amanda Ruths Zimmer horteten, weil Mr. Lee jeglichen Reis weggeworfen hatte, den er in der Küche gefunden hatte. Bauernfraß, nannte er ihn.
    Ich erzähle Graham von dem Foto, das vor vierzehn Jahren in der Zeitung erschienen war. Als ich vom Hunter College in mein Elternhaus zurückgekehrt war, um dort die Weihnachtsferien zu verbringen, betrachtete ich, allein in meinem alten Zimmer, die Aufnahme mit dem Vergrößerungsglas, auf der Suche nach Antworten. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Um den Hals war ein langer Schal in einer blassen Farbe geschlungen. Wäre nicht der absonderliche Winkel ihres Beines, die steife Pose und das unvorstellbare Gewirr der Haare auf dem Asphalt gewesen, hätte man annehmen können, es handle sich um die Fotografie einer Schlafenden. »College-Studentin Ermordet«, lautete die Schlagzeile. Der erste geheimnisumwitterte Mordfall in der Stadt.
    Als ich mit meiner Geschichte am Ende bin, fühle ich mich leer und ausgebrannt und ein wenig schuldbewusst. »So viel habe ich schon seit Jahren nicht mehr von ihr erzählt. Ich wusste nicht, wie ich ihr gerecht werden sollte.«
    »Versuchen Sie es. Wie sah sie aus?«, spornt Graham mich an.
    »Lange dunkle Haare. Schlank, gut proportioniert. Ich wüsste gerne, wie sie jetzt wohl aussähe.« Ich versuche es mir vorzustellen, gealtert im Laufe der Jahre und mit den ersten Krähenfüßchen um die Augen. Doch in meiner Vorstellung ist Amanda Ruth immer siebzehn und taucht mit einem Kopfsprung in den Demopolis River, ihr Badeanzug von einem augenfälligen Blau, das sich vom erdigen Braun des Flusses abhebt. Oder sie erscheint mir wie ein Zeitungs foto in Schwarz-Weiß, hingegossen wie ein schlafendes Mannequin hinter der Kunsteisbahn. In den Nahaufnahmen, die mir die Polizei während der Vernehmung zeigte, waren Amanda Ruths Lippen geöffnet, als wollte sie gerade etwas sagen, wozu sie jedoch nie mehr kam.
    Plötzlich verschwindet der Mond. Einen Augenblick lang sind keine anderen Boote mehr zu sehen und ich fühle mich, als wären wir ganz allein im dunklen toten Mittelpunkt des Universums. Gleich darauf kommt ein Lastenkahn in Sicht, die Red Victoria lässt ein Warnsignal erschallen und der Mond taucht wieder auf, ein matt orangefarbenes Loch im schwarzen Firmament.
    »Jetzt sind Sie an der Reihe«, sage ich. »Erzählen Sie mir etwas.«
    »Wie wäre es mit einem Gedicht?«
    »Von wem?«
    »Ping Hsin, ein chinesischer Dichter aus dem zwanzigsten Jahrhundert:
    Heller Mond –
    Jede Trauer, Betrübnis, Einsamkeit durchlebt –
    Felder aus silbernem Licht –
    Wer bläst, am anderen Ufer des Baches
    Eine jubilierende Flöte?«
    »Das ist schön.«
    Um fünf Uhr morgens, als es zu dämmern beginnt, sitzen wir immer noch an Deck. Die niedrigen Hügel wurden von hohen Bergen abgelöst, deren zerklüftete Gipfel eine Zickzacklinie am Himmel bilden, die bis zum Horizont verläuft. Graham ist schließlich eingenickt, die Beine nach vorne ausgestreckt, die Arme hängen zu beiden Seiten des Liegestuhls herab. Sein Hemd ist verrutscht, sein Gesicht von den Spuren des Schlafes gezeichnet.
    Ich könnte mich leicht hinüberbeugen und ihn berühren, doch bin ich völlig unvorbereitet auf den nächsten Schritt, wie immer dieser auch beschaffen sein könnte. Ich möchte ihn mit einem Kuss in die Welt des Bewusstseins zurückholen, wie der Prinz in dem Märchen das Mädchen weckte, das Kriege und Jahrhunderte und Hungersnöte verschlief. Ich begnüge mich damit, seine Hand zu berühren. Er regt sich nicht. Ich schleiche mich davon. Eine kleine
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