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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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das erste, das diejenigen zu sehen bekommen, die in die Welt der Lebenden zurückgeholt werden. Obwohl er niemals ein Wort darüber verlauten lassen würde, weiß ich, dass er immer ein bisschen enttäuscht war, wenn er nach einem Einsatz nach Hause zurückkehrte und die sichere und irdische Welt unserer Wohnung in der Upper West Side betrat, wo er das Geschirr abgewaschen, die Sofakissen gerade gerückt und seine Frau gesund und munter vorfand.
    Matt Dillon kehrt mit den drei bestellten »weltberühmten« Jangtse-Pfannkuchen zurück. Stacy gießt Ahornsirup auf ihren Teller und sagt: »Jetzt bin ich aber erleichtert. Ich hatte schon Angst, dass sie uns Affen oder so etwas in der Art vorsetzen würden.«
    Während des Frühstücks behalte ich unauffällig die Tür im Auge. Wir haben unsere Mahlzeit fast beendet, als Graham alleine auf der Schwelle des Speisesaals erscheint. Er entdeckt mich und kommt an unseren Tisch. »Morgen.« Seine Gesicht und seine Stimme verraten nicht das Geringste über die Intimität der gemeinsam verbrachten Stunden und ich frage mich, ob das Gefühl der Verbundenheit, das ich in seiner Gegenwart verspürt habe, einseitig war. Vielleicht bin ich schon so lange verheiratet, dass ich verlernt habe, die Absichten eines Mannes einzuschätzen.
    »Ihr kennt euch?«, fragt Dave.
    »Ich habe gestern Nacht Ihrer Frau ein Gespräch aufgedrängt, als Sie bereits in der Kabine waren und Schäfchen zählten. Graham ist mein Name.«
    »Dave.« Dave reicht Graham die Hand, die Handfläche nach oben gekehrt. So schüttelt er anderen immer die Hand – er beeilt sich zu versichern, dass er nicht auf ein Kräftemessen bedacht ist, kein Interesse daran hat, der Konkurrenz um eine Nasenlänge voraus zu sein. Das ist eine der Eigenschaften, die ich anziehend fand, als wir uns kennen und lieben lernten. Er war völlig anders als die jungen Männer, die ich aus meiner Heimatstadt kannte, die Macho-Typen mit den polternden Stimmen, dem festen Händedruck und dem Bedürfnis, jede Situation unter Kont rolle zu haben.
    »Wir legen heute Abend in Nanjing an«, sagt Graham. »Ich kenne dort ein ausgezeichnetes Restaurant. Wie wär’s, hätten Sie beide nicht Lust, mitzukommen?«
    Dave legte seinen Arm um meine Schultern, als wären wir ein Herz und eine Seele, als wäre die ganze Reise seine Idee. »Klingt fantastisch.«
    * * *
    Dave und ich sind der grünen Gruppe zugeteilt worden, mit Elvis Paris als Reiseleiter. Stacy, einen Skizzenblock und ein Etui mit Bleistiften in der Hand, schlängelt sich an uns heran. »Was dagegen, wenn ich das fünfte Rad am Wagen spiele?«
    Wir gehen in Yangzhou von Bord, bei Nieselregen, der aufs Gemüt drückt. Als wir von der Gangway auf das Schwimmdock treten, verteilt Elvis Paris Anoraks. »Fol gen bitte!«, ruft er und schwenkt den grünen Wimpel über seinem Kopf. Wir gehen durch schmale Gassen, in denen rege Geschäftstätigkeit herrscht. Hier werden Waren aller Art feilgeboten: Glasflaschen mit Arzneimitteln, Plastiksandalen, bunte Hemden, Porzellanschalen, Kämme, Tee tassen, Kameras, Jadeschmuck, Geldbörsen aus Lederimitat, Batterien, Essstäbchen, Zahnpasta, Lampen, Strümpfe, Radios, Kugelschreiber, Postkarten.
    Eine ältere Frau schneidet ihren Kunden auf dem Gehsteig die Haare. Ihr Salon besteht aus einem rostigen Metallstuhl, einem gelben Kamm, einer Schüssel Wasser, einer Schere, einem Handspiegel und einer Blechbüchse, in der sie ihre Einnahmen aufbewahrt. Ein kleiner Junge in roten Shorts kauert nicht weit entfernt auf dem Boden und verkauft Getreideähren aus einem Plastikeimer, den er zwischen die Beine geklemmt hat. Alle naselang hockt eine Gruppe alter Männer rund um einen Tisch unter einer Markise, das Klicken der Mahjongg-Steine hallt in den Straßen wider. Ein kleiner Junge mit geschlitztem Hosenboden bleibt stehen und verrichtet seine Notdurft auf dem Gehsteig, während die Mutter ihn an den Unterarmen hält; er plappert auf uns ein, als wir vorübergehen. Ein mit Wassermelonen beladener Karren steht unmittelbar neben einer modernen Eiscreme-Gefriermaschine, die Bilder von Eis am Stiel, Trommelstöcken und einem lächelnden Vorsitzenden Mao schmücken. Eine junge Frau in einem blauen Kleid reicht ihren Kunden frisch gebügelte weiße Wäsche aus einem noch dampfenden Korb. Ein Mann ohne Beine verkauft Räucherstäbchen vom Rücksitz einer Rikscha aus.
    Hinter Elvis Paris hertrottend, Handtaschen und schwere Kameras unter der Regenausrüstung an den Körper
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