Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
ganze Stadt unter Wasser? Niemals! Unser Dorf gibt es seit zweitausend Jahren.«
    Schon bald kamen junge Männer mit großen Eimern roter Farbe den Fluss herauf und schrieben Zahlen auf die Felsen hoch über dem Dorf. Es war eine hübsche Rotschattierung, doch die Zahlen hatten für sie keine Bedeutung. In ihrem Dorf hatte schon immer ein reges Kommen und Gehen geherrscht. Die Roten Garden waren vor vielen Jahren aufgetaucht, als sie eine junge Frau gewesen war, und hatten an den wenigen Tempeln, die sie nicht bis auf die Grundmauern niederbrannten, große rote Schriftzeichen angebracht, Parolen, die ihrer Wut Ausdruck verliehen.
    Die neuen roten Schriftzeichen sind jedoch anders. Ihr Augenlicht ist zu schwach, um sie zu entziffern – sie kann nur einen verschwommenen grellroten Fleck auf Gebäuden und Hügelabhängen erkennen –, doch ihr Sohn hat ihr erklärt, dass die roten Markierungen den Wasserstand nach dem Bau des Dammes anzeigen.
    In manchen Nächten träumt sie von den grellroten Zahlen, sieht, wie der Fluss steigt und zuerst die Straßen überflutet, dann den Boden ihres Teestands. In diesen Träumen steht sie immer an ihrem Stand und sieht, als sie an sich hinabblickt, dass sich ihre Füße mit einem Mal unter Wasser befinden, dann ihre Waden, ihre Knie. Die Baumwolle ihrer weiten Hose bläht sich auf, als sie sich mit Wasser füllt, und danach nimmt ihre Bluse die Form eines prall gefüllten Kissens an. Teeblätter steigen hoch und treiben davon. Zunächst sorgt sie sich um ihre Teekanne aus Porzellan, doch sie ist schwer und schwimmt nicht fort. Sie spürt, wie das Wasser an ihrer Brust, an ihrem Hals emporkriecht. Es ist eisig kalt. Die Kinder, die sich auf dem Heimweg von der Schule befinden, sind klein und das Wasser ist bereits über ihre Köpfe gestiegen. Statt zu rennen, setzen sie einen Fuß vor den anderen, ihre kleinen runden Knie stemmen sich gegen das Gewicht des Wassers. »Großmutter Naschwerk!«, rufen sie und strecken die Hände aus, doch ihre Worte gehen in einem unverständlichen Blubbern unter. Luftblasen strömen aus ihren Mündern. Ihre Haut ist bläulich und gespannt. Die langen Zöpfe der Mädchen driften über ihren Köpfen. Und das Wasser steigt immer noch. Es füllt ihre Münder, ihre Nasenlöcher. Es drückt kalt und grob gegen ihre Augäpfel. Sie hatte sich den Fluss stets als sanfte Wesenheit vorgestellt, weich wie Seide, doch er besitzt eine Textur, eine ureigene Rauheit. Der Fluss ist nicht wie andere Gewässer. Er ist Yang, Der Fluss.
    Ich versuche mir vorzustellen, wie es für sie sein muss, mit mir hier zu sitzen. Vielleicht hat sie schon seit Monaten keine einzige Tasse Tee mehr verkauft. Und dann, inmitten der Einsamkeit, die sie umgibt, hört sie Schritte. Sie erkennt anhand der Leichtigkeit der Schritte, dass es kein Mann ist, der sich nähert, und anhand der Schnelligkeit, dass es sich um eine junge und nicht um eine alte Frau handelt. Hocherfreut fordert sie die Passantin auf, zu verweilen. Die Passantin ist schweigsam, deshalb nimmt die alte Frau an, sie müsse müde sein. Die alte Frau redet und redet, äußert alle Gedanken, die sie in ihrem Gedächt nis bewahrt hat, seit sie ihren Sohn das letzte Mal sah. Ihre Lebenszeit neigt sich dem Ende zu und es gibt noch vieles, was sie sagen möchte.
    Später fragt sie die junge Frau, ein wenig verlegen, weil sie so viel geredet hat: Wie heißt du? Kenne ich dich? Bist du gekommen, um deine restliche Habe zu holen? Sag mir, steigt das Wasser schon?
    Und dann geschieht etwas Seltsames. Die junge Frau spricht zu ihr, mit einer Stimme, die ihr fremd ist. Die Worte kommen ihr vage bekannt vor, doch sie haben keine Bedeutung. Ihr Tonfall ist falsch, die Worte sind zu rund, wie Luftblasen, die einem Fischernetz entweichen. Die Frau denkt über die Worte nach, reiht sie wie die einzelnen Glieder einer Kette aneinander. Ah, die junge Frau sagt, dass sie nicht Chinesisch spricht. Das ist unmöglich! Die alte Frau ist nie jemandem begegnet, der nicht Chinesisch spricht. Jahrelang hat sie die großen Schiffe auf dem Fluss vorbeifahren sehen, flussaufwärts nach Chongqing, oder flussabwärts nach Wuhan oder Shanghai. Sie weiß, dass sich die waiguoren an Bord befinden. Sie hat von ihnen gehört, von den Menschen mit der blassen Haut, die wie Geister aussehen, als wären sie in die Sonne gelegt worden und verblichen.
    » Gweilo«, sagt sie abermals und berührt mein Gesicht, meinen Hals. Sie beugt sich hinab und riecht an meinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher