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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Richmond
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der Steine ist zu erkennen, dass das Spiel mittendrin abgebrochen wurde. Ich fühle mich an die Aufnahmen von Tschernobyl, an die verlassenen Häuser auf der Insel Destiny erinnert. Als wäre das Leben, das gerade noch in vollem Gang war, abrupt zum Stillstand gekommen. Als wären die Menschen von einer Minute zur anderen aufgestanden und gegangen, auf Nimmerwiedersehen.
    Ich bücke mich, um einen Kieselstein aus meiner Sandale zu entfernen. Als ich mich wieder aufrichte, taucht eine Gestalt aus dem Nichts auf – eine alte Frau, die an einem Teestand steht. Sie trägt blaue Hosen und eine Bluse. Ihr kurzes Haar hat den gleichen Silberton wie der baiji , den ich in Nanjing im Reservat, in Gefangenschaft sah. Zuerst halte ich sie für ein Trugbild, doch dann ruft mir die Erscheinung etwas zu. Obwohl ich die Worte nicht verstehe, ist mir die Geste vertraut. Mit der einen Hand schürt sie ihren Ofen. Mit der anderen winkt sie mich herbei.
    Sie deutet auf einen Holzstuhl vor ihrem Stand und ich nehme Platz. Vor uns der Fluss. Hinter uns die menschenleere Stadt. Zu unserer Rechten erheben sich terrassierte Hügel, die nahtlos in dunkelgrüne Berge übergehen, die majestätisch im Nebel aufragen und aussehen, als wären sie in Falten gelegt. In der Luft vermischt sich der zarte Duft der Reisfelder mit dem uralten Geruch des Flusses. Die alte Frau füllt zwei Tassen mit dampfendem Tee, dann setzt sie sich neben mich. Sie beginnt zu reden. Sie redet eine Weile, ihre Stimme hebt und senkt sich, gelegentlich lacht sie, wohl über einen Scherz, den sie gemacht hat. Und sie blickt immerzu starr geradeaus.
    Ich verstehe kein Wort, doch sie spinnt den Faden ihrer Erzählung unentwegt weiter, hebt dann und wann den Arm, um in diese oder jene Richtung zu weisen oder mit einer ausladenden Geste eine weite Fläche anzudeuten. Ich stelle mir vor, dass sie mir Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, wie sie als kleines Mädchen auf den Straßen dieser Stadt spielte. Meine Gedanken werden auf den Schwingen ihrer Geschichten fortgetragen.
    Damals sah man überall Kinder. Wir ließen unten am Fluss Steine springen. Wir trugen gelbe Kleider. Meine Mutter betrieb diesen Teestand, den sie von ihrer Mutter übernommen hatte, und diese wiederum von ihrer Mutter. Mein Vater arbeitete auf den Feldern. Ich hatte zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder, den wir Kleiner Panda nannten, weil er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Damals standen wir früh auf, um die hohen Stufen zum Tempel zu erklimmen, wo wir Räucherwerk entzündeten und unsere Gebete verrichteten. Bevor Kleiner Panda das Licht der Welt erblickte, gingen wir mit unserer Mutter dorthin, um zu beten, das nächste Kind möge ein Junge sein. Siehst du den Tempel? Vielleicht ist er fort. Ich habe schon lange niemanden mehr beten gehört.
    Morgens besuchten wir die Schule. Wir übten die Schönschrift auf dem Straßenpflaster. Wir tauchten unsere Pinsel nur in Wasser und wenn die Sonne hinter den Bergen aufging, verschwanden unsere Schriftzeichen. Lehrer Li sagte, es sei gut, die Schriftzeichen auf diese Weise zu üben. »Alles ist vergänglich«, sagte er. »Alles schwindet dahin.« Doch ich fand meine Schriftzeichen wunderschön und war erbost, wenn sie verblassten. Und deshalb tauchte ich meinen nassen Pinsel eines Tages in glimmende Kohlen. Als Lehrer Li meine Schriftzeichen auf der Straße entdeckte, lange nachdem die Sonne alle anderen getrocknet hatte, erteilte er mir eine ausgiebige Lektion. Er war erzürnt über meinen Ungehorsam, doch das war es mir wert!
    Auf der Straße dort drüben begegnete ich meinem Ehemann. Er war Treidler. Er stammte aus Fuling, einer flussaufwärts gelegenen Ortschaft. Er überragte alle anderen Männer im Dorf und war stark wie ein Ochse. Die Muskeln seiner Beine waren von den Hügeln, die er erklimmen und den Dschunken, die er durch die Stromschnellen ziehen musste, hart wie Eisen. Das Seil, das er sich um die Taille band, hatte eine tiefe Kerbe hinterlassen. Ich bangte ständig um ihn. Manchmal ging ich ans Ende der Straße und blickte auf die lange Kette der Treidler hinunter, die den Hügel über dem Fluss hinaufstapften und im Schweiße ihres Angesichts das schwere Schiff hinter sich herzogen. Jeden Tag hörten wir von einem anderen Mann oder mehreren, die dabei ihr Leben gelassen hatten. Jeden Tag und jede Nacht wartete ich voller Angst darauf, dass er heimkam. Wenn sich im Dorf die Neuigkeit verbreitete »Heute gab es wieder zwei
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