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Der Duft

Titel: Der Duft
Autoren: Aufbau
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    |10| Prolog
    Joan Ridley schreckte aus dem Schlaf. Ihr Herz pochte heftig. War da ein Schrei gewesen? Sie setzte sich auf. Durch die dünnen
     Vorhänge fiel das schwache, bläuliche Licht der Dämmerung. Draußen war nur das tägliche Morgenkonzert des Waldes zu hören:
     der Gesang der Vögel, hin und wieder unterbrochen vom klagenden Ruf eines Adlers, dem Kreischen der Meerkatzen oder dem Trompeten
     eines Elefanten.
    Sie lauschte eine Weile, während sich ihr Puls allmählich beruhigte. Sie musste geträumt haben. Sie streckte sich auf der
     dünnen, von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit klammen Matratze aus und versuchte wieder einzuschlafen. Sie hatte heute einen
     langen Weg vor sich: Sie wollte Gruppe8 suchen, die sie schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Zuletzt
     war die zwölfköpfige Berggorillasippe an den Hängen des Sabinyo-Vulkans gesehen worden, der das Dreiländereck zwischen dem
     Kongo, Ruanda und Uganda markierte.
    Sie schwang sich aus dem Bett, zog sich die braungrün gefleckte Tarnkleidung über, zögerte kurz, griff dann nach dem Halfter
     mit Revolver am Haken neben der Tür und legte ihn an. Sie hatte schon länger keine Leopardenspuren mehr in der Nähe gefunden,
     und es war höchst unwahrscheinlich, dass eines der scheuen Tiere sie angriff, aber es schadete nicht, vorsichtig zu sein.
    Die Karisoke-Forschungsstation lag still im Morgennebel. Die meisten der schlichten Hütten standen leer. Die Gründerin der
     Station, die legendäre Gorillaforscherin und Naturschützerin Dian Fossey, hatte bis zu ihrer Ermordung |11| dort gelebt, wo jetzt Joans Hütte stand. Während des Bürgerkriegs in Ruanda war die ursprüngliche Station zerstört worden,
     doch Joan hatte gemeinsam mit einer Gorillaschutz-Organisation für den Wiederaufbau gesorgt. Dennoch hatte hier nie wieder
     die frühere Betriebsamkeit geherrscht, denn seit Dian Fosseys Tod war das wissenschaftliche Interesse an den Berggorillas
     erlahmt. Ihr Verhalten galt als hinlänglich erforscht, ihr genetischer Code war gespeichert. Sie waren nur noch eine von vielen
     bedrohten Tierarten, die zumindest in den Archiven der Wissenschaft überleben würde. Nur zwei Studenten, die mehr aus Abenteuerlust
     denn aus wissenschaftlicher Notwendigkeit an einer Langzeitstudie der Gorilla-Bewegungen im Gebiet des Virunga-Massivs teilnahmen,
     schliefen noch in einer der aus Wellblech und Holz zusammengezimmerten Behausungen.
    Joan ließ die beiden schlafen, ging zum Hühnerpferch und holte sich zwei Eier, die sie in der kleinen Kochhütte zu einem Omelett
     briet. Dann packte sie ihre Ausrüstung zusammen: Feldstecher, digitale Videokamera, Diktiergerät, eine Feldflasche mit Wasser
     und zwei Riegel Kraftnahrung für den Notfall. Währenddessen zogen Bilder eines wirren Traums durch ihren Kopf: Ein Gorilla,
     groß wie King Kong, hatte sie über die Vulkanhänge verfolgt und war dann von Hunderten von Menschen mit Macheten zerstückelt
     worden.
    Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu verdrängen, und nahm einen Schluck von ihrem starken Kaffee. Die Einsamkeit hier oben
     hatte manchmal unangenehme Begleiterscheinungen. Trotzdem würde sie ihren Arbeitsplatz mit keinem anderen auf der Welt tauschen
     wollen. »Sanfte Riesen« hatte ihr Vorbild Dian Fossey sie genannt, und Joan liebte die Tiere fast wie ihre eigene Familie.
     Ihrer Meinung nach waren sie die freundlichsten und sympathischsten |12| Lebewesen auf dem Planeten. Ihre Forschungsarbeit über den Humor der Berggorillas war in Fachkreisen oft belächelt oder gar
     verhöhnt worden. Doch sie hatte inzwischen genügend Videobeweise gesammelt, um zu zeigen, dass Gorillas sehr wohl Schabernack
     miteinander trieben und eine Gefühlsäußerung zeigten, die man durchaus als Lachen interpretieren konnte.
    Nicht zum ersten Mal überlegte sie, was aus der Erde geworden wäre, wenn nicht Homo sapiens, sondern die Gorillas die Weltherrschaft
     errungen hätten. Sie war überzeugt, dass die Welt eine bessere gewesen wäre. Wenn es einen Gott gab, dann hatte er bei der
     Auswahl der dominanten Spezies einen gravierenden Fehler gemacht.
    Sie trank den Kaffee aus, spülte das Geschirr ab und trat aus der Kochhütte. Der Karisimbi, mit gut 4500 Metern der höchste
     Gipfel des Virunga-Massivs, lag im Nebel verborgen. An seinen Hängen hatte Joan gestern am Spätnachmittag noch einmal kurz
     Kontakt mit Gruppe 5 gehabt, einer der an Menschen gewöhnten Gruppen, die in
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