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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst
Autoren: Marcus Sarkey
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bereut hätte; ganz im Gegenteil, er hoffte, dass es eine Hölle gab, damit Jack darin schmoren konnte. Doch Tom befürchtete, dass dieser eine Moment einmal sein ganzes Leben definieren würde, dass er all die kostbaren Momente in den Hintergrund treten lassen würde. Er hatte Angst davor, sich am Tag seines Todes nicht an Annas Augen oder Julians Lächeln zu erinnern, sondern an Jack Witkowski, der ihn immer noch angrinste, als sein halber Schädel davonflog.
    Das Orange des Himmels ging langsam in Violett über. Es war der Moment, in dem die Dämmerung dunkler erschien als die Nacht. Tom liebte die Stille hier im Garten hinter ihrem kleinen Haus an der Küste – ein guter Platz zum Nachdenken. Für eine gewisse Zeit hatte die Welt, an die er geglaubt hatte, in Flammen gestanden, und es kostete viel Mühe, sie wieder aufzurichten.
    Die arme Polizei. Fast hatte sie ihm leidgetan. Mit dem Shooting-Star-Raub und der Schießerei in der Century Mall hatte sie zwei große Fälle in noblen, politisch bedeutsamen Stadtteilen bewältigen müssen, und das in weniger als einem Monat. Dazu noch tote Cops, tote Bürger, ein Waisenkind. Und zwei Gewaltverbrecher, die entkommen waren, um schließlich von zwei ganz normalen Leuten erschossen zu werden – von zwei ganz normalen Leuten, die unter dem dringenden Verdacht standen, eine Menge Geld entwendet zu haben. Was für ein Durcheinander.
    Zuerst hatten Anna und er angefangen, die ganze Wahrheit zu erzählen, doch schon bald wurden sie vom Detective unterbrochen und allein im Verhörzimmer sitzen gelassen. Man ließ sie lange warten, und als sich die Tür wieder öffnete, trat ein anderer Cop ein. Auch er trug den Sheriffstern an der Hüfte, aber der Anzug darüber war ein gutes Stück teurer als der seines Vorgängers. Außerdem redete er wie ein Anwalt.
    Der Cop musste zwanzig Minuten herumpalavern, bevor Tom kapierte, dass die Polizei nichts wissen wollte von der ganzen Wahrheit – nicht in diesem Fall. Denn jetzt, wo Jack und Marshall tot waren, konnten sie bestenfalls darauf hoffen, das Geld eines millionenschweren Stars aufzutreiben, der keinesfalls zugeben würde, dass es ihm jemals gestohlen worden war, ja, der sicherlich mehr als bereit wäre, nochmal dieselbe Summe draufzulegen, nur um die Sache unter den Teppich zu kehren. Im Gegenzug müssten sie zwei Bürger verhaften, die den Tod mehrerer Kollegen gerächt hatten, und einen Einjährigen in eine Pflegefamilie verbannen. Doch ihre Hauptsorge war eine andere: dass sich der ganze Schlamassel auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Fünf-Uhr-Nachrichten wiederfinden würde.
    So hatte sich der feste Boden unter ihren Füßen plötzlich in Rauch aufgelöst – Anna und er durften gehen, allerdings mit der nachdrücklichen Ermahnung ausgestattet, bloß den Mund zu halten. Die Wahrheit lautete also: Manchmal ist die Wahrheit einfach nicht genug.
    Danach war es steil bergab gegangen. Zuerst Saras Beerdigung, die unsäglich quälende Konfrontation mit den Folgen ihres Handelns. Die leichenblasse, zitternde Anna, die in den Sarg mit dem viel zu rosigen Wachsgesicht ihrer Schwester blickte. Die Reporter, die vor dem Friedhof lauerten. Dann die Fotos in der Zeitung, die Leute, die sie auf der Straße wiedererkannten und mit gierigen Vampiraugen anstarrten. Der Anblick ihres niedergebrannten Hauses, die Erkenntnis, dass Jack auch diese letzte Verbindung zu den Menschen, die sie einmal gewesen waren, zerstört hatte. Doch am schlimmsten waren die einsamen Mitternachtsstunden, wenn die Dämonen flüsterten, dass ihre Schulden noch lange nicht abbezahlt waren, dass das nur der Anfang war.
    Aber es gab auch die ruhigen Momente, wenn sie sich festhielten, wenn sie redeten oder weinten oder miteinander schliefen. Und Julian, vor allem Julian. Er war ihre Freude, ihre Verpflichtung, vielleicht das Einzige, was sie weitermachen ließ. Meistens drehte sich das Flüstern der Dämonen um ihn, um das, was passieren würde, wenn sie ihm eines Tages … aber das änderte nichts, gar nichts. Wenn Anna und er eines versprechen konnten, selbst in dieser verrückten Welt, dann dass Julian sehr, sehr geliebt werden würde. Und das war das einzig Wichtige.
    Am Himmel tauchten die ersten Sterne auf – eine verdrehte Art zu denken, natürlich, denn sie waren ja immer da gewesen, die Sterne. Tom hatte sie einfach nicht gesehen.
     
    »Mama, gobbala«, sagte Julian und lächelte.
    »Genau«, antwortete Anna, »Mama gobbala.« Sie knöpfte
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