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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst
Autoren: Marcus Sarkey
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frischem Stoff wurden die Meldungen in den Nachrichten bereits kürzer, und bald würde der nächste Aufreger kommen und die Story aus dem Rampenlicht verdrängen. Die Welt war ein einziges Schattenspiel.
    »Da ist es«, sagte Andre und deutete auf ein klobiges Gebäude mit einem orangefarbenen Ladenschild.
    Malachi nickte, sagte aber nichts. Er war sich nicht sicher, was hier gespielt wurde, und hatte über die Jahre gelernt, dass es in solchen Fällen besser war, zu denken statt zu reden. Andre parkte den Mercedes am Straßenrand, in einigen Hundert Metern Entfernung von dem Gebäude. Draußen spannte sich der blaue Himmel von Horizont zu Horizont. Ein etwas kurz geratenes Mädchen führte drei Hunde aus, die in drei verschiedene Richtungen zerrten.
    Was für eine merkwürdige Situation – es gab so viel abzuwägen, aber viel zu wenig Informationen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen. Stattdessen musste er sich auf einen rätselhaften Telefonanruf und auf seinen Instinkt verlassen. Nun gut. Ohne Risiko kein Gewinn.
    Malachi lehnte sich nach vorne, ließ das Sakko hinter sich auf den Sitz gleiten, legte das Schulterhalfter ab und reichte Andre die Pistole. »Leg sie hinten in den Koffer. Deine auch.«
    Sein Bodyguard stieg aus. Malachi wartete, bis der Kofferraum wieder geschlossen war, bevor er selbst auf die Straße trat. Um einen Wagen zu durchsuchen, musste die Polizei einen hinreichenden Verdacht vorweisen können, und um einen abgeschlossenen Koffer aufzubrechen, brauchte sie eine offizielle Genehmigung. Er glaubte nicht, dass das Spiel in diese Richtung laufen würde, aber sicher war sicher.
    An der Rezeption saß ein gelangweilter Schwarzer mit zotteligem Bart. Malachi nickte ihm zu. »Hast du vielleicht einen Schlüssel für mich, Bruder?«
    Der Mann hielt ihm einen kleinen Briefumschlag hin.
    »Wo ist der Aufzug?«
    »Hinten rum und dann rechts.«
    Schweigend fuhren sie hinauf und traten in einen kahlen, von Neonröhren beleuchteten Flur. Malachi reichte den Schlüssel weiter. Andre kniete sich hin, steckte ihn ins Schloss und schob dann die Tür nach oben. »Ver-damm-te Schei-ße«, ächzte er.
    Mitten in dem kleinen, quadratischen Raum lag ein Haufen Geldbündel, lauter Hunderter. Ein weiterer Umschlag ruhte darauf. Malachi ging mit Andre hinein und schloss die Tür, bevor er den Geldberg eingehend musterte. Etwa dreihundert, schätzte er. Andre sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    »Gib mir den Umschlag«, befahl Malachi, »und fass sonst nichts an.«
    Es war ein Briefumschlag im Standardformat, nicht zugeklebt. Malachi öffnete ihn und holte ein zusammengefaltetes Papier heraus, schüttelte es auf und las:
     
    Wir stehen auf keiner Seite mehr.
Das Zeug ist Gift.
Wir wollen es nicht.
     
    Und das war’s. Drei ordentlich getippte Zeilen auf stinknormalem weißem Papier, ohne Unterschrift. Malachi überflog die Worte ein zweites Mal, faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Sakkotasche. »So was.« Über ihren Köpfen summten die Neonröhren.
    »Was hast du vor?«, fragte Andre.
    Malachi blickte seinen Leibwächter an und schüttelte den Kopf. »Soll das ein Witz sein? Pack es ein.«
    Mit Gift kannte er sich aus.
     

 
    Juli 2007

22
     
    Der Duft des verblühenden Flieders mischte sich mit dem schwachen Salzgeruch des Meeres. Tom hatte sich auf die Holzbank gesetzt. Irgendwo hatte er gelesen, dass Flieder angeblich Kopfschmerzen linderte, aber gegen seine hatte er nie geholfen. Dr. Carney war der Meinung, dass er lernen musste, mit der Migräne zu leben. »Was erwarten Sie denn?«, hatte sie gefragt und mit den Schultern gezuckt. »Die Nase gebrochen, Fraktur des Wangenknochens, ausgeschlagene Zähne, Gehirnerschütterung. Glauben Sie etwa, Ihr Körper schmeißt da ’ne Party?«
    Es machte ihm nicht allzu viel aus. Tom lehnte sich zurück, kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken und versuchte, das schwankende Gefühl hinter seinen Augen zu ignorieren – es fühlte sich an, als bohrten sich Tausende von Nadeln in seine Augäpfel. Immer wenn er an diesen Abend dachte, der jetzt schon ein Jahr zurücklag, kämpften zwei Gedanken miteinander. Der eine war die Erinnerung an Anna, wie sie seinen Namen rief, daran, wie er in diesem Moment wiederauferstanden war, wie sie ihn zu neuem Leben erweckt hatte. Dieser Gedanke gefiel ihm.
    Der zweite Gedanke gefiel ihm weniger: wie er die Pistole auf Jack Witkowski richtete und abdrückte. Nicht dass er es
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