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Im Auge des Feuers

Im Auge des Feuers

Titel: Im Auge des Feuers
Autoren: Jorun Thoerring
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Blumenvasen.
    »Oscar Wikan, gestorben am 14.05.1969. Friede sei mit ihm.«
    Oscar Wikan war in der Brandnacht im selben Gebäude gewesen wie er.
    Karls Brille beschlug und er spürte, dass er schwitzte. Mit steifen Schritten kehrte er wieder zum Stichweg zurück.
    Das schmiedeeiserne Tor der Familiengrabstätte stand offen. Er musste wirklich durcheinander sein, denn er war sich sicher gewesen, dass er es vorhin geschlossen hatte.
    Der Engel auf dem Grabstein leuchtete weiß in der Dunkelheit, die gefalteten Hände streckten sich ihm entgegen. Um einen Arm war etwas geknotet. Karl trat näher heran. Ein breites Band, unmöglich von der Dunkelheit zu unterscheiden, aber vom weißen Marmor hob es sich deutlich ab. Ein breites, schwarzes Seidenband. Trauer .
    Karl stutzte. Solche Bänder benutzte man eigentlich nur auf frischen Gräbern. Aber dieser Grabstein, so absurd er auch war, erinnerte an die Jahreszahl 1969. Zu welchem Zweck hängte jemand einen Trauerflor an ein jahrzehntealtes Grab? Und außerdem: Wieso war ihm der Trauerflor nicht schon zuvor aufgefallen?
    Der Pelzmantel nützte nur wenig. In seinem Nacken stand kalter Schweiß und der Frost kroch die Wirbelsäule entlang. Mit starren Fingern riss er das Band an sich und stopfte es in die Tasche. Schlagartig überkam ihn eine Flut von wirren Gefühlen.
    Niemand weiß, dass du zurück bist, murmelte er. Niemand erwartet dich.
    Die Kälte biss und seine Zehen begannen taub zu werden, als er sich langsam rückwärts vom Grabstein entfernte.
    Hier lagen nicht seine sterblichen Überreste. Aber wessen Leiche war es dann?

Kapitel 2
    Tromsø, 14. Mai 1969, 3:20 Uhr
    Das Geräusch der Sirenen weckte ihn.
    Karl Fjeld versuchte den Traum festzuhalten, in den er gerade gesunken war, versuchte herauszufinden, ob die Sirenen ein Teil davon waren.
    Eine unruhige Nacht. Ferne Stimmen und schrille Töne, die ihn bis in den Schlaf hinein verfolgten. Weit entfernt Motorenlärm. Eine Autotür wurde geöffnet und geschlossen, Schritte draußen vor dem Haus. Gleich darauf das Geräusch von Autorädern, die sich schnell im Kies drehten und davonrollten.
    Karl öffnete die Augen und starrte an die Decke. Ein längs verlaufender Riss in der weißen Farbe schlängelte sich bis in eine Ecke. Darauf fiel sein Blick jeden Morgen als Erstes, ein Riss wie ein Pfad, den er unzählige Male gegangen war. Hier kannte er jede Unebenheit.
    Die Sirenen heulten weiter, sie klangen wie gierige Wölfe in der Ferne. Er öffnete das Fenster und feuchte Nachtluft erfüllte das Schlafzimmer, zusammen mit dem heulenden Sirenenton. Die Aufforderung des Zivilschutzes, Radio zu hören.
    Im selben Moment schrillte das Telefon. Eine scharfe Disharmonie zu den Sirenen, ein Wettstreit beängstigender Töne.
    Karl stürzte hinaus in den Korridor und griff nach dem Hörer. Bevor er etwas sagen konnte, gellte die Stimme seines Vaters in seinem Ohr.
    »Hörst du nicht die Sirenen, Junge? Die Radiomeldung ist längst draußen. Die Stadt brennt!«
    »Die Sirenen …«
    »Das halbe Stadtzentrum steht in Flammen! Unsere Häuser! Es brennt ganz in ihrer Nähe!«
    Karl setzte an, etwas zu sagen, aber die Sirenen übertönten ihn.
    Die Stimme des Vaters schien fern, als er aus dem Fenster sah. Das Mailicht, jetzt in der Nacht genauso hell wie mitten am Tag, war getrübt. Am Horizont quollen dichte Rauchmassen auf. Besitztümer der Familie lagen am Hafen, dazu gehörten unter anderem einige der vielen alten Speicherhäuser direkt am Kai. Dahinter befanden sich schmale Gässchen und einige Holzgebäude. Nicht alle davon waren ebenso schön wie alt. Viele waren dafür, sie einfach abzureißen. Man wollte Platz schaffen für moderne und zeitgemäße Bauten. Aber große Teile der Holzhausbebauung standen unter Denkmalschutz. In einem waren sich jedoch alle schon immer einig gewesen: Das gesamte Hafengebiet mit der alten Holzhausbebauung war eine Brandbombe.
    Er blieb unschlüssig mit dem Telefonhörer in der Hand stehen. Die Idee stieg so überwältigend in seinem Bewusstsein auf wie der Rauch am Horizont. Innerhalb von Minuten war er zur Tür hinaus. Der Zeitpunkt war ideal. Endlich konnte er seine Pläne verwirklichen.
    Perfekt, diese Aussicht von Rambergan. Es war vier Uhr morgens. In der letzten Zeit hatten sie ruhiges Wetter gehabt, mit tiefblauem Himmel, und es versprach ein weiterer strahlender Maitag zu werden. Auf der anderen Seite des Sundes reichte die Schneedecke noch weit die Berghänge hinab, an einigen
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